~ In einer echten Gemeinschaft wird aus vielen Ich ein Wir~ 

 

Kapitel 1

 

Der Junge schaute mit großen, hungrigen Augen in das Schaufenster des Metzgers. ,,Billy & Brother’s House” - ein wahrer Hingucker.

Hinter dem dicken, gelblichen Glas türmten sich ein Haufen Salamis und kleine Würstchen in noch warmen Brötchen. An der Theke standen wohlbezahlte Leute, die zu den teuren Waren blickten.

Einer holte eine Scheibe Wurst für seinen Hund. Für den Hund! Der Junge fühlte in seiner Tasche das Geld, welches er brauchte um ein ganzes Brot kaufen zu können oder eine Wurst. Es klimperte und lockte.

Ach, was hätte er gegeben, genau sowas Schmackhaftes im Mund zu spüren.

Er beneidete den kleinen Köter mit der albernen, rosa Schleife im Haar und den winzigen Zähnchen, die langsam das Essen zerkauten. Der Hund war ihm einen gleichgültigen Blick zu, leckte sich das Mäulchen und bettelte um Nachschlag. Wenn ein Junge bettelte, gab ihm niemand etwas. Hunde, jedenfalls die, die in normalen Wohnungen schlafen konnten, hatten es dahingegen leichter. Er wusste, sein Betteln würde die Leute nur abschrecken, der Ladenbesitzer, ein fetter, glatzköpfiger Mann namens Billy, würde rausrennen und ihn treten, damit er sich so schnell wie möglich verzog. Er kannte Billys rote, teuflischen Augen und seinen verklebten, schwarzen Bart. Er kannte seinen schmerzhaften Tritt und die vor Wut gebrochene Stimme. Die runde Kartoffelnase hielt seine kleine Brille an den winzigen Ohren und der Bart verdeckte sein dickes Doppelkinn.

Die Kunden verließen glücklich den Laden und Billy starrte zu ihm raus. Der Junge dachte, er sähe Satan direkt in die Augen. Der Metzger schüttelte den schweren Kopf und verschwand hinter einer großen Tür. Der Bursche sah sich selber im Spiegelbild des Fensters an. Sein Name war James, Nachname Crook. Als er sich so sah, angezogen in den letzten Lumpen, den seine Mutter für ihn hatte, in den staubigen und aufgekratzten Schuhen seines verstorbenen Vaters und der Betteljungen-Mütze, fühlte er sich noch viel schlimmer. 

Er steckte seine Finger durch ein weites Loch im tausendfach geflickten Mantel. Mottenzerfressen und schmutzig. Einfach ein Alptraum für seine 14 Jahre. Am liebsten würde er jemand anderes sein. Genauso ein reicher Futzi, der seine gekaufte Wurst an den Hund verfütterte. Abartig. Auf seinen Kopf tropfte ein relativ großer Tropfen Regenwasser aus dem durchlöcherten Rohr über ihm. Jeder Tag derselbe.

Er stand einfach so da.

Nichts, was er gegen die Welt tuen konnte, sie war ganz gegen ihn allein. Das Leben belohnte nur die, die nur reich waren. Das Geld war bereits vererbt. Sie mussten keinen Finger rühren. James überlebte nur mit kleinen Jobs, die ihm seine Nachbarn gaben. Seine Mutter arbeitete als Putzfrau bei einem alten Herrn, der selbst nichts zu tun hatte. Das Stadtleben war härter als erwartet. The American Dream rentierte sich nicht. Wenigstens waren sie innerhalb der Mauern vor den Outlaws geschützt, die sein Zuhause zerstört hatten. Doch James versank nicht in Selbstmitleid. Er fuhr sich durch die blonden Haare um nicht mehr wie ein Straßenjunge zu wirken. Trotzdem war er immer noch der Gleiche. Wie hätte er wissen können, dass dieser Tag alles verändern würde?

Ein Mann mit einem schicken, schwarzen Anzug lief achtlos an ihm vorbei. James sah ihm neugierig hinterher. Sein Jackett hatte weder Fleck noch Staubkorn, der Zylinder saß perfekt auf den gegelten Haaren. Mit einem geschnitzten Stab in der Hand, der genau im Rhythmus seines ruhigen Ganges einhielt, und den Lederschuhen mit Mustern auf der Mittelfußpolsterung, sah er wirklich aus wie ein englischer Tourist, der bereit wäre, sein Geld in den Vereinigten Staaten zu lassen.

James erblickte einen kleinen Straßenjungen, in seinem Alter, der sich an den Mann ranschlich. Er hatte die goldene Taschenuhr im Visier. James und der fremde Junge wechselten einen Blick der Schweigsamkeit. Sie verstanden einander. Selbst ihre Kleidung sah sich ähnlich und ihre Verzweiflung in den Augen. Eigentlich hätte er nichts getan, es war ja nicht seine Sache, aber er nickte ihm zu und rief: ,,Sir!” Er wusste nicht, was er als nächstes sagen sollte und ergriff einfach eine liegengelassene Bürste. ,,Sie haben dreckige Schuhe – Stiefel... Soll ich sie für Sie putzen?” Er lächelte verlegen. Ohne einen Hocker war er sehr im Stich gelassen vor dem erhöhten Blick des Passanten. ,,Sicherlich.” Der Mann stellte den Fuß auf einen Treppensims und ließ die Prozedur über sich ergehen, während der fremde Straßenjunge seine Taschen leerte.

Es war wie ein lustiges Schauspiel, aber niemand lachte. Es war toter Ernst. Als der fremde Junge fertig war, raste er mit voller Energie über die Straße ohne nur einen Blick zurück oder zur Seite, denn da kam eine Kutsche angefahren. ,,Fertig! Ihre Schuhe sind wie neu!”, verkündete James lautstark und brachte den Mann zum Lächeln.

Er hatte dunkelblaue Augen und einen trüben Blick. Das Auffälligste waren aber die Lachfalten und eine beinahe unerkenntliche Narbe an der linken Augenbraue. ,,Wie heißt du, Junge?”, ,,James.” Was kommt jetzt, dachte er sich. Der Mann drückte ihm zwei Doller in die Hand und sprach: ,,Kaufe dir was Schönes, James.”

Zwei Dollar! Das war einer der glücklichsten Momente an diesem Tag. So viel bekam kein Bettler zusammen und er wusste, was ein Bettler bekam. Eilig lief er in Billys Laden und klopfte auf die Thekenklingel. Ihm wehte ein herrlicher Duft von pikanten und milden Gewürzen entgegen. An gekrümmten, glänzenden Eisenhaken hingen Fleischstücke wie in einer Ausstellung. James hätte die ganze Metzgerei leergeräumt, wäre sein Budget nicht nur auf zwei Dollar beschränkt gewesen. ,,Ich komme!”, brummte der Ladenbesitzer und kam mit einer neuen Schürze zur Theke gelaufen. ,,Du?! Was willst du?”, ,,Zwei Würstchen und ein Brötchen bitte.” Er war jetzt nicht mehr ein armer Bettlerjunge, er war ein Kunde in Billys Laden. Und so wollte er auch sprechen und behandelt werden. Er legte stolz die zwei von seiner verschwitzten Hand erwärmten Münzen auf eine kleine Schüssel. Billy runzelte die faltige Stirn und zog sie mit seiner ausgedehnten Handfläche in die oberste Tasche seiner weißen Schürze. James’ Herz klopfte so schnell wie ein galoppierendes Pferd. Billy packte ein Messer, schnitt zwei mittelgroße Würste von der Wand, nahm ein frisches Brötchen aus einem Kasten und legte alles in eine Papiertüte. Er fragte mit schroffem Ton: ,,Du hast das Geld wohl nicht geklaut?”, ,,Nein, Sir, ich habe geschauspielert.”

James packte die Tüte und verließ von Glück strahlend das Geschäft. Die Düfte des Fleisches und der Gewürze wurden ersetzt durch Dreck und Alkoholgestank einer abgestandenen Whiskey-Flasche. Vor dem Eingang standen drei stramme Jungs. Einer davon war der Junge von vorhin. James blieb erstaunt stehen, bereit zu rennen, bereit zu kämpfen. Seine Mutter sagte immer, zuhause sei er sicher, auf der Straße war er nackt. Genau diese Angst durchströmte ihn. Zu allem Überfluss drehte Billy die Tür zu um das Geschäft zu schließen. Kein Weg zurück. Er setzte sein angstunterdrückendes Grinsen auf und grüßte: ,,Hey Jungs!” Sie wirkten alle sehr ernst.

Der Kleine hatte rote, gelockte Haare, blaue, schmale Augen und einen runden Kopf. Das Offensichtlichste waren seine kurzen Beine, aber James wusste schon, wie flink er laufen konnte. ,,Name?”, fragte der Größte finster dreinblickend. James stotterte: ,,George.”, ,,Du lügst! Archi hat gesagt, du heißt James. Du hast ihm geholfen, die goldene Uhr zu klauen.” Er warf ihm einen kleinen Geldbeutel vor die Füße. ,,Wir teilen unseren Gewinn.” James hob ihn auf und betrachtete nachdenklich die 15 Dollar, die ordentlich in Münzen abgezählt waren. Er hatte noch nie so viel Geld gesehen.

Er hielt seine Glückstränen zurück. ,,Nicht heulen!”, knurrte der Zweitgrößte der Gang. Ein schlanker Junge mit so hellen Haaren, dass sie beinahe weiß erschienen. An seiner hochgekrempelten Hose aus zusammengenähten Stofffetzen hing ein Sack voller Steine, eine Steinschleuder und ein Stock mit Nägeln. Er hatte feurige, schwarze Augen und Narben an Gesicht, Armen und Hals, die seine Lebensgeschichte ohne Worte beschrieben.

,,Das ist Carl.”, sagte der Große. James erkannte an seiner offenen Körpersprache, dass er wirklich nichts anderes wollte außer Reden. Er entspannte sich. ,,Robert Rubinski.” Er hielt ihm seine Hand hin. James schüttelte sie energisch. Robert hatte schwarze Haare im Mittelscheitel und braune Augen, die einen durchdringenden und zugleich ruhigen Charakter aufwiesen. Vielleicht trüge ja der Schein. Er war bestimmt ihr Anführer. Er war auch der Einzige, der Schuhe trug von den dreien. Die Schuhe waren ganz passend, nicht angelaufen oder angekratzt. Als hätte er sie sich gerade gekauft. ,,Neu hier?”, ,,Ja.”, ,,Dann komm schnell heim. Die Stadt ist voller Ratten.” Robert drückte sich von ihm weg, sein Blick blieb aber an ihm hängen. Archi biss in einen Apfel und die Burschen gingen mit Händen in den Hosentaschen fort.

Was eine Truppe, dachte er sich. Besonders hatte es ihm Archi angetan. Er war ja noch so jung.

James lief über die graue Straße heim, hopste und lächelte. Leute gingen an ihm vorbei, beachteten ihn nicht. Sie waren alle zu beschäftigt mit ihrer eigenen Welt. Andere hingegen schauten ihm verwundert hinterher. Was wohl so ein armer Junge zur Freude hatte? Doch sie hörten nicht die Münzen im Geldbeutel klimpern und das sein Herz singen. Mit einem rostigen Schlüssel öffnete er eine angeranzte Holztür und betrat den schmalen Vorraum seiner Wohnung. Er wurde begrüßt von einem lauten Knarzen des nachgegebenen Holzbodens. Die von Spinnenweben bedeckten Fenster zeigten die leere Major-Street und den alten Blumenladen, den er noch nie besucht hatte. Staub fiel von der Decke.

Es war leblos und einsam. Er schlurfte zur Küche und legte seine Einkäufe mit dem Geld auf den Tisch. Die halbzerbrochene Wanduhr zeigte 15 Uhr an. Genug Zeit um mit Freunden zu spielen oder sich zu sonnen. Aber er hatte keine Freunde und es wurde regnerisch. Um sich die Zeit totzuschlagen und seinen Hunger zu stillen, nahm James eine Wurst in das Brötchen, drehte den Stuhl zum Fenster und setzte sich, mit den Augen nach draußen. Er kaute jedes Stück mindestens 30 Mal, damit er möglichst lange satt blieb.

Er beobachtete die Blumenverkäuferin, die klagend versuchte, ihre Blumen zu verkaufen. Er sah die Wäsche im nassen Wind flattern und das Ladenschild die Straße entlang fliegen. Daraufhin rannte die Verkäuferin hinterher und hob es behutsam auf. Sie hatte wirklich nicht den besten Tag. Sie tat ihm leid.

Er nahm einen Dollar und rannte patschend über die glatten Pflastersteine. ,,Einen schönen Strauß...” Sie hatte reichlich Blumen, neue und nicht ganz so neue. ,,Ein Dollar?!”, rief sie, ,,Junger Mann, das ist zu viel für einen Strauß.”, ,,Ist schon in Ordnung.”, sagte er lächelnd, ,,Behalten Sie den Rest.” Er zeigte auf einen lockeren Strauß aus gelben Narzissen. Er wusste, diese Blumen kamen nicht aus der Gegend. Hier wuchs fast gar nichts. Nur Kakteen und vereinsamte Büsche. Sie bekam ganz zittrige Hände. Er entnahm vorsichtig den Strauß und bedankte sich bei ihr.

Zuhause füllte er etwas Regenwasser in eine gesprungene Vase und stellte sie hinein. Seine Mutter würde sich freuen und dieser Gedanke wärmte sein Herz. Er beäugte sein übriges Geld. Eine fettgefressene Ratte tapste über den Boden und schnüffelte an den klapprigen Regalen. Als sie ihn erblickte, kullerte sie in ihr Loch. James sah die vielen Bücher in den Regalen, die er alle nicht lesen konnte.

Er hat nie gelernt zu lesen oder sogar zu schreiben. Vielleicht würde ihm das zum Verhängnis werden, aber bis dahin lief es ganz gut. Er kaufte gerne die neueste Zeitung und ließ sie sich von der alten Witwe Mrs. Goldbray vorlesen, die über ihm wohnte. Bücher las sie auch. Am liebsten hatte er ein Buch mit dunkelblauem Einband. ,,Gunslingers and Qutlaws”. Es wurden dort verschiedene Gesetzlose vorgestellt, wie sie handelten und wie es zu ihrer Berüchtigkeit kam. Er hätte es gerne selbst gelesen, doch er konnte sich nicht mal im Traum vorstellen, zur Schule zu gehen.

Mit einem kleinen Täfelchen, drei überteuerten Schulbüchern und Frühstück in ein mickriges Häuschen mit ein paar wenigen Sitzreihen zu gehen, stundenlang dem strengen Lehrer zuzuhören und dann erst wieder zurück nach Hause rennen, um der Mutter zu erzählen, wie schrecklich es dort war. Ach ja, Hausaufgaben hätte er auch machen müssen. Er war kein dummer Junge. Er fand immer Wege, um an sein Ziel zu kommen. Alle, die ihn kannten, bezeichneten ihn als clever und schauspielerisch begabt. James liebte es, Leute nachzuahmen. Ob den hitzköpfigen Müllmann, der mit grimmigem Gesichtsausdruck und Beleidigungen durch die Gassen schlenderte, oder den Sheriff Bogrol, der oftmals mit seinem Abzeichen angab und sich an jeden Pfosten anlehnte, seinen Hut bis zu den Wangen runterzog und eine Zigarette rauchte, um gut auszusehen.

Er mochte ihn sehr. Mit seinen 36 Jahren sah er mindestens halb so alt aus und freundlich war er auch. ,,Das Gesetz ist immer an deiner Seite.”, sagte er immer. Er hatte weiche Hände und dieses ganz besondere Bogrol-Lächeln. ,,James! James, wach auf!”, schrie seine Mutter, Anne, und rüttelte an ihm bis er seine hellblauen Augen aufriss. Er musste in einen tiefen Schlaf gefallen sein.

,,Was ist das für Geld?! Und hast du Wurst gekauft?! Weißt du, wie teuer die ist?” Er erklärte, er habe das Geld gefunden und habe einem Mann die Schuhe geputzt, was auch zum Teil stimmte. Anne setzte sich gelassen hin und hörte ihm sehr aufmerksam zu. Sie wusste, wie leicht ihr Sohn lügen konnte. Schon mit 3 Jahren hatte er angefangen seinem Vater, Jeremy, Dinge vorzutäuschen, Geschichten zu erzählen und dabei die wichtigsten Dinge auszulassen. James selbst kannte sich zu gut, um die Geschichte überzudramatisieren. Alles, was er sagte, speicherte sie bis auf jedes Detail ab. Eigentlich hatte sie ihn noch nie beim Lügen erwischt und das machte ihm Angst. Entweder sie wusste Bescheid oder er war zu gut. Bogrol sagte immer: ,,Lügner werden gefunden und Verbrecher bestraft.” Seitdem fragte sich James, ob Lügen auch Verbrechen sind.

Als er seine Geschichte beendet hatte, seufzte Anne und streichelte ihm mit einem bitteren Lächeln über den Kopf. ,,Du bist so ein braver Junge.” Sie zeigte auf die Blumen. ,,Ich danke dir, mein Großer. Du hast deine Mum wieder stolz gemacht.” Sie legte das Geld vor ein schwarz-weißes Bild von Jeremy in seinen jungen Jahren, welches eingerahmt in einem der Regale stand. Ein hübscher Mann mit strahlenden Augen und einem breiten Lächeln. Es kam einem vor, als hätte man sein Lachen hören können. Daneben lagen sein abgegriffener Hut und ein Stapel angefangener Schriftstücke. Dramen, Romanzen, Tragödien, Lieder, Komödien, Nicht eines war beendet. Jeremy war ein Geschichtensammler und Sänger. Er war sehr beliebt in dem bescheidenen Dörfchen, in dem sie gelebt hatten. James konnte es noch vor sich sehen:  Saloon mit Klaviergeklimper, Gemischwarenladen und Apotheke, kaum besucht, Lagerfeuer mit den Nachbarn und ein Haufen an Heu, von dem man die schönsten Lieder hören konnte. James’ Geheimversteck.

Anne kochte immer für sie. Es gab köstlichen Fisch oder Bratkartoffeln. Doch eines gab es kaum, und auch aus gutem Grund. Suppe. Alles, außer die berüchtigte Suppe, die einfach schrecklich schmeckte und meistens dafür benutzt wurde, Mäuse von den Beeten fernzuhalten. Jeder kannte die Crooks. Unschuldige Menschen, die, wie so viele, Opfer des geldgierigen Staates wurden. Oder besser gesagt von den reichen Ölbaronen, die keine Rücksicht nahmen vor so einem friedlichen Ort. Solange Geld floss, war alles egal. Bezahlte Gesetzlose, die alle erschossen, die sich weigerten, zu verschwinden. Eine Kugel traf Jeremy zwischen die Augen. Seitdem vertraute James nie wieder auf das Gesetz. Nicht, solange die wahren Verbrecher frei sein konnten und die Veränderer hinter Gittern saßen.

,,Das ist genug Geld für einen neuen Bettbezug.”, meinte Anne, die versuchte, Energie zu fassen., ,,Lass es uns morgen kaufen, ja?” Sie war sehr froh über das Geld, hatte aber keine Kraft, es zu zeigen. James wachte mit den ersten Sonnenstrahlen auf. Seine Mutter war bereits auf Arbeit und er war allein. Er blickte sich, wie immer, etwas verwirrt im Zimmer um. Und da traf es ihn wie von einem Blitz. Die Idee, etwas zu machen, Geld zu verdienen. Eilig zog er seine Hose an, straffte die Hosenhalter über seine Schultern, ergriff des Vaters Hut und rannte hinaus.

Ein Jahr in der Stadt und er kannte bereits alle Ecken, jeden Laden und jeden Hund, dem man aus dem Weg gehen sollte. Er rannte an Bettlern und rauchenden Cowboys, an Saloonbetreibern und verwunderten Fußgängern vorbei. Pferde schnaubten, Wägen fuhren vollbeladen durch die Allee. Es war nicht das erste Mal, dass er versucht hatte, etwas zu verdienen, aber kein Betrieb wollte ihn, kein Kopfgeldjäger suchte einen Helfer. Also machte James das, was er am besten konnte. Schauspielern, improvisieren. Aber es würde nicht funktionieren, hätte er nicht einen Kumpel. Den Bettler Jeff, der als einer der wenigsten Bettler lesen konnte. Und das nutzte er aus. Er tat den Hut auf den Boden und fing an:

,,Ladies und Gentlemen! Schaut her! Kommt näher! Des Schicksals Spiel, präsentiert von meiner Wenigkeit.” Vorwitzig traten die Leute in einen Halbkreis um ihn. ,,Nun... Ihr seid unterwegs zur Arbeit, ich weiß, aber wartet nur ab; niemand wird euch glauben, dass ein Mann wie er-” Er packte Jeff am Kragen und hob ihn ins Publikum. ,,-lesen kann! Ja, ja, er ist einer der wenigen Menschen, die lesen können.” Jeff hatte immer ein Buch mit Gedichten bei sich. Sein weißer Bart und seine runde Brille mit gesplittertem Glas ließen ihn sehr schlau aussehen. Er flüsterte ihm zu, er solle schnell ein Gedicht vortragen und das machte er auch ohne zu hinterfragen. Der Junge wird schon wissen, was er tut, dachte er sich. ,,Morgenwind, ach Morgenwind, so holst du mich geschwind...” James pustete laut im Hintergrund, fasste sich selbst ans Herz, zerrte sich über die Bühne. Er zog Grimassen, tänzelte vor allen Blicken auf Zehenspitzen, rollte sich wie eine Katze und sprang rum wie ein Frosch. Das Publikum lachte und warf Münzen in den Hut. Er war auf der Bühne, er erzählte seine eigenen Geschichten, während Jeff die Gedichte wie ein wahrer Meister vortrug. Er beendete seinen Vortrag mit einer tiefen Verbeugung, aber James fuhr fort.

Er erzählte von seinem Heim in einer komödienartigen Art. Er zeigte mit impulsiven, übertriebenen Bewegungen wie der Müllmann und der Sheriff liefen. Er machte einen Handstand, jonglierte mit vier zugeworfenen Äpfeln. Man könnte meinen, er wäre im Zirkus aufgewachsen. Dabei hatte er nur Zeit gehabt und Langeweile. Und als er sich ein letztes Mal verbeugte, gab es dröhnenden Applaus von mindestens 40 Personen.

Er hüpfte zu Jeff und zeigte ihm begeistert ihren Verdienst. ,,Das war genial!”, lachte dieser mit hellen Guckern, ,,Wie bist du darauf gekommen, so eine Show zu machen? Die Leute waren begeistert!” James zuckte die Schultern. Er kannte die Antwort selbst nicht. Fakt war, es war ein Erfolg und bestimmt nicht das letzte Mal, dass er das machte. Er wusste, früher oder später musste er Geld verdienen und wieso nicht gleich damit anfangen? Doch er hatte im selben Moment ein ungutes Gefühl. Er wurde beobachtet.

Ein hoher Mann stand an einem Fass und starrte ihn mit eiskalten Augen an. Er hatte eine schwarze Lederweste und einen nigelnagelneuen Patronengurt, der im schwachen Sonnenlicht des wolkigen Tages zu glänzen schien. Mit seinem braunen, gepflegten Vollbart und seinen massiven Händen, die eher maschinellen Greifern ähnelten, sah er aus wie ein typischer Stadtmensch auf der Suche nach Plünderei und Sauferei. Weder Outlaw, noch abgesetzter Amateur. Straßenrabauke, zweifellos, ein ewiges Kind. Nicht ganz so arm. Er lief direkt auf sie zu. Jeff umklammerte den Hut wie sein Baby und spannte sich an wie einen Bogen. ,,Ihr dürft das nicht behalten.”, behauptete er und klang dabei sehr überzeugt, ,,Als der Besitzer dieser Straße verlange ich vollständige Summe des Auftrittes.”, ,,Seit wann gehört dir die Straße?”, pfauchte James, etwas sarkastisch.

,,Seit genau fünf Jahren. Problem, Kiddo?”, ,,Ja, es ist nämlich unser Geld.” Sie machten ein kurzes Starrduell bis der Mann einwarf: ,,Du hast keine Ahnung, wer ich bin. Ich bin Herbert Jaw Junior, Sohn von Herbert Jaw Senior.”, ,,Wem?”, ,,Dem größte Ölbaron im ganzes Staat von Texas?” Nachdem sie immer noch nicht verstanden, um wen es sich handelte, ergriff er den Hut, rupfte an ihm und schlug auf Jeff ein. James krallte sich in seinen rechten Arm und trat ihm gegen das Schienenbein. Herbert holte aus und warf ihn zu Grunde. Die Angst überdeckte James’ Schmerzen. Wie aus dem Nichts traf den Baronsohn ein Stein am Kopf. Fluchend rieb es sich die Stelle. ,,Robert! Du- DU!!”, ,,Das ist unsere Straße, unsere Stadt, Holzkopf!” Wägen hielten an, Männer und Frauen betrachteten das Schauspiel. Herbert wurde nervös, immer noch seine Stirn reibend.

,,Behaltet euren Schrott!”, schrie er, ,,Ist eh nichts wert. Aber lasst euch gesagt sein: Ihr werdet bestraft werden!” Robert half James wieder auf die Beine und lobte ihn für den ausgezeichneten Auftritt. Solange James alle abgelenkt hatte, hatten die Jungs den Jackpot im Taschenleeren erreicht. Archi zeigte mit geschwellter Brust eine Packung der neuesten Premiumzigaretten. Robert erzählte auch von Herbert.

Es stellte sich heraus, dieser Mann war nicht nur ein reiches Söhnchen eines Ölbarons, sondern auch ein gefürchteter Kopfgeldjäger und erfolgreicher Glücksspieler. Doch seine Karriere verbarg nicht, wer er wirklich war. Ein Mörder. Er war Anführer einer zehnköpfigen Bande, die die Dörfer für seinen Vater putzten. Mit Geld konnte er sich freikaufen und lebte seither ein wohliges Leben. Und es war wahr - ihm gehörte die Straße.

,,Doch an uns kommt er nicht vorbei.”, lachte er und verschränkte seine breiten Arme. Sie liefen alle hinter James zu ihm nach Hause. Archi zündete eine Zigarette an und nippte an ihr. Wäre nicht seine Größe, hätte er als Erwachsener durchgehen können. Es war etwas sicherer für James, sich bei den Jungs zu halten. Auch wenn er es nicht bemerkt hatte, war er ein Teil einer Straßengang geworden. Carl sammelte stumm ein paar Steinchen ein und probte, sie zu schleudern. Währenddessen machte Archaniel Blödsinn. Er hüpfte auf einem Bein und schlug Räder auf dem schiefen Weg. Dann erzählte er von seiner bunten Scherbensammlung und einige Witze über Sheriffs. ,,Der Sheriff erzählt etwas von Nächstenliebe. Dann sagt er, man sollte immer ein Auge zudrücken.”, ,,Warum?”, fragte James, obwohl er den Witz bereits kannte. ,,Damit man besser zielen kann!”

Carl gluckste kurz, aber sein Grinsen verschwand und seine festen Augen blieben am Boden hängen. Robert blieb stehen und Archi lief in ihn rein.

,,Das ist also dein Heim.”, sagte er und wirkte sichtlich erleichtert keinen Hinterhof zu sehen oder ein Zelt. ,,Ich hoffe, du hast etwas zu essen.”, knurrte Carl und leckte seine weißen Zähne. Etwas durcheinander öffnete er ihnen die Tür. Archi war der Erste, der die Apfelkiste bemerkte. Seine roten Haare passten zu den reifen Früchten. Carl biss in den saftigen Apfel, sodass die Flüssigkeit an seinen Backen runterfloss, und schmiss sich auf James’ Bett. Robert prüfte die Wände und sprach so gleichgültig wie möglich: ,,Hübsche Wohnung. Ich nehme an, du lebst nicht allein. Nicht schlimm. Wir werden trotzdem vorbeischauen.” Hübsche Wohnung. Darunter verstand James was anderes. Die Wände schützten, ja, aber mehr nicht. ,,Wo wohnt ihr?”, ,,Nirgendwo.”, schmatzte Carl, ,,Keine Eltern, keine Wohnung. So ist das.” Er fuhr sich durch die langen, hellen Haare. Robert wandte sich an James: ,,Können wir dir vertrauen?”, ,,Ich hoffe doch. Kann ich euch vertrauen?”

Er hielt dem prüfenden Blick des Anführers stand. Der Geruch einer weiteren Zigarette füllte den Raum. ,,Du bist jetzt ein Teil von uns, ob du es willst oder nicht. Du weißt zu viel. Wir beschützen dich und dafür gibst du uns Essen und Auftritte und vielleicht, nur vielleicht, wirst du genauso gut sein wie wir.” Sheriff Bogrol hätte ihn dafür umgebracht oder ausgeschimpft bis zum Geht-Nicht-Mehr, aber James stimmte dem Deal zu. Das war eine Entscheidung, die alles, woran er glaubte und wen er liebte in Gefahr bringen könnte, aber ihm ein besseres Leben verschaffen würde. Das war jedenfalls seine Hoffnung.