~Verlässligkeit bringt Vertrauen~

 

Kapitel 2

 

Horbly Town war eine Stadt mit 8.000 Einwohnern. Sie lebten alle dicht in meistens dreietagigen Häuserblocks, die allesamt einen Hinterhof hatten. Es gab viele Straßen mit noch mehr Gassen. Sie waren ungepflegt und trotzdem oft betreten. Es gab ein einziges Bahngleis und einen mickrigen Park. Das war’s. Es war unangenehm, aber Zuhause. 

Es war beinahe enttäuschend, dass selbst hier, am Ende der Welt, Mord und Entführung eine große Rolle spielten. Vielleicht lag es auch daran, dass in Horbly Town eine Bank stand. Eine breitflächige Bank vollgestopft mit Geld. Sie stand drei Straßen östlicher Richtung von James’ Haus entfernt. Ein perfekter Stützpunkt, wenn man etwas ausrauben wollte. Doch keiner der Jungs dachte daran, außer Robert. Er saß mit den Beinen überkreuz auf einem geflochtenen Sessel inmitten des umwucherten Hinterhofs und paffte an einer pechschwarzen Pfeife, die Archi einem reichen Typen abgezogen hatte. Ein Feuer brannte unter einem veralteten Grillrost und wärmte die Füße der Burschen. 

 Auch Bogrol, Anne, Jeff und Mrs. Goldbray waren am Grillen. Es gab Beef, nach sehr sehr langer Zeit. James stellte die Teller auf. Bogrol lud sie immer öfters auf etwas Schönes ein, auch die Jungs.  Sie waren ja James Freunde und Bogrol wollte so viel Zeit wie möglich mit ihm und seiner Mutter verbringen. Langsam aber wurde James mulmig von seiner Nähe. Er verdrängte aber das Gefühl und verteilte allen die Teller. 

 Bogrol stimmte mit Carl ein Liedchen an. Carl spielte Mundharmonika, er hatte eine Gitarre auf dem Knie liegen. Sie hatten alle etwas Schickes an, wie auf einem Fest im kleinen Kreis. Robert drehte einen kleinen Schlüssel in der Hand. Diebesgut. Er hatte keine Angst vor Bogrol, weil er es bis dahin sowieso nicht bemerkt hatte. James blickte nervös zum Sheriff, aber er schien wirklich kein Interesse an dem Schlüsselchen zu zeigen. Er rückte näher an Robert heran und schaute zum Schlüssel. ,,Was das?” Er hatte eine kleine Verzierung am Griffel und eine Ziffer, die an einem Blättchen hing. ,,Das”, sagte Robert mit der Pfeife im Mund, ,,Ist unser Ticket in die Zukunft. Ein Safe-Schlüssel. Für die Bank.” Er beugte sich etwas zu ihm. ,,Er gehört Herbert.”  

James vergaß auf einmal das schöne Essen und das knisternde Lagerfeuer. Er hatte nur Augen für das winzige Metallstück, welches Robert verspielt in der Hand drehte. Egal, was im Safe wäre, es wäre wertvoll. ,,Wie-?”, ,,Archi war schon immer ein geschickter Dieb.” Er lehnte sich wieder zurück und pustete den Rauch aus. Es war ein Jahr vergangen, als sie James involviert hatten. Ein Jahr und die Bande war ihm immer noch ein Rätsel. Er wusste jetzt, welche Vergangenheiten sie hatten. Robert und Archaniel lebten zusammen auf einem Dorf, weiter im Norden. Archi verlor seine multikulturellen Eltern mit nur einem Jahr. Unter anderem war er ein Viertel Ire, was lustigerweise seine Haarfarbe aufzeigte. Robert kümmerte sich um ihn. Er war schon immer ein kleiner Rabauke, meinte er. Nach einigen Missernten wurde das Geld im Dorf knapp. Sie mussten das Land verkaufen, doch einen Umzug gab es nicht.  

In der Nacht wurden Roberts Eltern ermordet und er floh auf einem Händler-Wagen Richtung Süden. Dort trafen Archi, der damals erst fünf Jahre alt war, und Robert, mit seinen fünfzehn Jahren, auf Carl, der sein ganzes Leben in der Stadt verbrachte. Sein Vater war Bankräuber und seine Mutter Sprengmeisterin. Bereits mit drei kannte Carl das Gefühl einen Revolver zu halten. Als seine Eltern geschnappt wurden, sah er sie nur noch am Galgen wieder. Ein Straßenkind von Anfang an und allein. Er verhasste seine Sprache und das Gesetz. Er verhasste den Staat, die Regierung, die Straße und die Menschen, bis er Robert ausrauben wollte und dabei von ihm erwischt wurde. Wenige Monate später trafen sie auf James und das war auch wieder ein Jahr her. James war bereits 15 Jahre alt. Anne schickte ihn immer öfter aus dem Haus und so baute er ein kleines Theater auf, mitten auf der Straße.  

Bogrol hatte sich in seinem Wohnzimmer eingenistet, James bekam immer Süßigkeiten. Als Geburtstagsgeschenk hatte er einen neuen Bettbezug bekommen. Es war traumhaft. Trotzdem lief das Business nicht mehr so gut. Sie brauchten neue Ideen und was wäre besser, als beieinander zu sitzen und zu reden. Am nächsten Tag regnete es nur. Es war die eine Zeit des Jahres, in der es einfach nicht aufhören konnte, zu gießen. Mrs. Goldbray lud die Jungs und Jeff auf einen Tee ein. Sie wusste nichts von ihren geheimen “Geschäften”, sie malte sich nur aus, sie wären Schauspieler. Roberts Blick schweifte durch den Raum und blieb bei dem Schlüssel hängen wie Dreck am Schuh. Er trug an diesem Tag einen dunklen Staubmantel und ein leerer Holster. Seine schwarzen Haare fielen ihm in schmalen Strähnen vor die Augen, während er kippelte und sich auf der Lippe biss.  

Carl wollte etwas sagen, doch seine Stimme verklang. Er war in letzter Zeit abgeschlagen und verkrampft gewesen. Seine Stimme war rauer geworden, leiser, und er griff sich keuchend am Hals. ,,Alles gut, Carly?”, fragte Robert eher fordernd als besorgt. Er brauchte starke, verlässliche Jungs und Carl verlor nach und nach seine Stimme für eine Stimmbandlähmung. Die Goldbray versuchte alles in ihrer Macht Stehende um ihm zu helfen, aber nur Tee kochen und gute Worte sprechen, brachten Carl seine Stimme auch nicht mehr zurück. Archi schlug dann eine weitere Idee für die Show vor. Feuerspucken. Er zog an der Zigarette und erwartete eine Antwort. ,,Wie denn, Archi?”, hakte Jeff nach und richtete seine neue Brille, ,,Ich kann nur lesen. James ist kein Drache.” Der alte Mann lächelte mit gespitzten Lippen unter dem geschnittenen, dennoch langen, Bart. Seine Stirnfalten zogen sich hoch als er den Schlüssel näher betrachtete. ,,Euch durstet es nach Gefahr.”, ,,Es liegt nicht an der Gefahr.”, verteidigte sich Robert, ,,Es liegt an der Auswahl. James wird für uns die Sachen holen.”, ,,Wie? Schonmal daran gedacht?!”, ,,Einfach, Jeff, ganz einfach.”  

Er hörte auf zu kippeln und beugte sich zu ihm. ,,Ich habe einen Anzug. Er wird sich als Adam ausgeben, ein Buttler aus Jaws Haus.” James hörte genau zu. Es war schließlich sein Job und er als Profi stellte sich bereits alles vor. Es musste perfekt sein. ,,Er gibt den Schlüssel bei der Rezeption ab und dann wird er in einen Raum gebracht. Dort muss er sofort den Safe mit der Nummer 4537 finden und öffnen. Alles muss so schnell wie möglich gehen.”, ,,Warum nicht langsam?”, widersprach James, ,,Es muss rüberkommen, als wäre ich wirklich Adam.”, ,,Was, wenn Herbert kommt?”, witzelte Archi und merkte erst später, dass das wirklich passieren könnte. Robert antwortete schnell: ,,Wir werden warten. Wenn dieser Job zu Ende ist, werden wir einen Weg finden, ein neues Leben zu beginnen.”, ,,Falls es damit möglich ist.” Jeff schüttelte seufzend den Kopf. Der Bart strich über den beigen Kragen seines abgetragenen Jacketts. ,,Ihr reitet euch in etwas ganz Großes rein.”, ,,Du musst ja nicht mitmachen.”, zischte Robert, während er einen vorsichtigen Blick zu Mrs. Goldbray warf, die aber nichts von den Gesprächen bemerkt hatte. Er nickte Carl zu. Dieser wusste bereits Bescheid und brachte gleich den Anzug für James. Es war ein Westenanzug mit Fliege und gebügeltem Hemd. Dazu waren zwei maßgeschneiderte, schneeweiße Handschuhe beigelegt. 1 A. So zog er sich an und sie gingen los. 

 Jeff schaute betrübt aus dem Fenster, die Hände hinter dem Rücken zusammengelegt. ,,Du musst es ihnen sagen.”, ,,Wie kann ich dieses eine Jahr wegwerfen, Susann?”, fragte er so trocken es nur ging, ,,Ich bin alt. Sie sollen ihr Leben ohne mich leben. Ich habe genug gespart, um von der Show zu gehen.”, ,,Lasse es wenigstens James wissen. Du kennst ihn schon seit er zwei Jahre alt war. Du hast ihn und seine Mutter in die Stadt gebracht, in Sicherheit.” Mrs. Goldbray schüttete wieder etwas Tee ein. ,,Ist es doch nicht offensichtlich? Sie sind deine Freunde. Sie brauchen dich.”, ,,Du hast keine Ahnung.”, ,,Sag es mir!” Er schaute zu ihr, erstaunt über ihren Ton. ,,Sage mir, was sie wirklich machen, Jeff.”, ,,Nichts. Es liegt nur an mir.” Der Alte verließ die Wohnung ohne ein weiteres Wort. Die vierköpfige Bande stand vor der Bank, einem dreietagigen, breiten Gebäude mit zwei Eingängen und einer Fluchttür an der Seite. Es war grau und hatte vier Säulen, die symmetrisch die Seiten stützten. Das Dach war flach. Es war eher ein einziger Quader als ein Haus.  

 ,,Los geht’s.”, seufzte James und betrat mit dem Schlüssel in der Hand den Eingangsbereich, der mit einem eleganten roten Teppich ausgelegt war. Aus dunkler Schwarzeiche waren die Rezeptionen gebaut und dahinter standen nach Zahlen geordnete Schlüsselregale. James zupfte sich an seiner seidigen Weste und verlangsamte seinen Schritt. Die glasige Tür hinter ihm schloss sich mit einem leisen Klack und er war auf einmal umhüllt von einer ihm noch vollkommen fremden Atmosphäre. Es roch nach frisch gedrucktem Geld und nach faltenfreier Seide von den Anzügen der Reichen. Er erhob seine Nase und lief zu einer Frau, die gerade Checks beschriftete. Er räusperte sich und lehnte sich zu ihr. ,,Zuritt zum Safe von Herbert Jaw Junior.”, ,,Name?”, ,,Adam Field.” Er wippte hin und her und unterdrückte ein nervöses Augenzucken. Er fühlte sich beobachtet, aber es waren nur er, die Frau und der klickende Stift da. ,,Name?”, wiederholte sie. ,,Adam. Field.” Sie schaute ihn an als wäre er vom Himmel gefallen. ,,Zuerst Nachname.”, ,,Oh- äh- Field.” Er grinste verlegen, kannte er nicht die Regeln einer Bank. Sie wandte sich wieder dem Schreiben zu und kritzelte “Field” auf ein Stück kariertes Altpapier und unterschrieb. ,,Schlüssel?”, ,,Dabei.”, ,,Gang rechts.” Sie legte das Papier auf den Tresen und ignorierte sein “Dankeschön”. James atmete gestockt aus.  

Schritt 1 war erledigt. Er folgte dem Gang und fand einen weiteren Tresen vor. Dort stand bereits ein offenbar finanzfähiger, begüterter Mann. Er wurde nach zwei Minuten der Qual durchgelassen und verließ den Saferaum mit einem Kästchen. 

 James legte den Zettel vor und zeigte den Schlüssel, der an seinem Zeigefinger baumelte. ,,Wurdest du von Jaw geschickt?”, ,,Ganz recht.”, antwortete er der zweiten Frau. Es gab keine weiteren Fragen. Er war so gut in seiner Rolle, dass er einfach durchgelassen wurde. Er ging in den Raum und schloss die schwarze Eisentür hinter sich. Er wirbelte umher, bis er den passenden Safe gefunden hatte. Er drehte den Schlüssel im Schloss und dann auf einem Zahlenrädchen. Er hatte es schnell offen. Er zerrte ein Kästchen aus einem fast leeren Räumchen hinter dem Türchen. Er war schwer. Voller Geld, dachte er sich. Er schloss alles zu und hetzte hinaus. Niemanden juckte sein plötzlicher Stimmungswandel, doch als er rauskam, gab es Jubel in der Wohnung.  

,,Klasse Arbeit!”, lobte Robert bei James zuhause und rüttelte an seinen Schultern, ,,Naturtalent! Habe ich das nicht gleich gesagt?” Alle, außer Carl, grinsten bis zu den Ohren und Archi brach das Schlösslein auf. Der Moment der Wahrheit. Dann kam eine Welle der Enttäuschung. Es waren nur Papiere im Kasten. Urkunden, abgelaufene Checks und vor allen Dingen Briefe. Viele Briefe. Zusammengepresst in einen Safe. Es gab spärlich ein paar Scheine. Insgesamt 20 Dollar. Das war genauso viel wie bei einem guten Auftritt. Robert riss einen Briefumschlag auf und las sich alles durch. Es gab aber nichts. Desillusioniert blickten die Mitglieder drein. Archi schaute schief lächelnd zu James und sprach: ,,Noch ein Auftritt also.”, ,,Bekommen wir hin.”, meinte Jeff aus dem Nebenzimmer, erfreut über die neuesten Ereignisse, ,,Dann, dann, meine Freunde, ist alles erledigt.” Robert fegte alles vom Tisch und trat gegen die Kante. Sein Wutausbruch brachte alle zum Grübeln. ,,Ein...”, krächzte Carl. Robert nickte. Ihn plagte eher der Gedanke, Herbert zu begegnen und das war nicht unbegründet. ,,Ein letztes Mal. Dann verlassen wir diese Gründe.”, versprach er, ,,Lasst uns in Ehren gehen! Ein letzter Auftritt, den die Leute nie vergessen werden.”, ,,Tanzen.”, schlug Archaniel augenblicklich vor, ,,Die Leute werden tanzen. Dazu sagt Jeff ein Gedicht über Liebe auf und fertig ist das Konzept.”, ,,Stehlen.” sagte Carl. ,,Carl hat Recht.”, schätzte Robert ein, ,,So bekommen wir unser Geld.” James verteidigte Archis Idee: ,,Um zu tanzen, werden die Leute bezahlen. Ein Dollar pro Kopf und wir haben alles gedeckt.” Robert nickte nachdenklich, legte sein Kinn auf den Handrücken. Danach stimmte er zu. Abends gingen die Jungs alle in James’ Zimmer um dort zu übernachten. Sie hatten nichts anderes. Bei spärlichem Kerzenlicht las Jeff die Briefe vor. ,,Lieber Herbert, lange haben wir uns nicht gesehen. Mama und ich vermissen dich. Wann kommst du wieder? Deine Schwester Colli.” Und das war in jedem einzelnen Brief. Es war traurig, mitzubekommen, wie die Briefe immer kürzer wurden und irgendwann aufhörten. James streifte seine Stirn mit dem Unterarm ab und fragte einfach: ,,Wie soll ich das Mum erklären?”, ,,Was?”, ,,Dass ich gehen werde. Raus aus der Stadt. Auf ein neues Leben.”

Jeff setzte seine Brille ab und schaute ihn unter seinen buschigen Augenbrauen an. ,,Weißt du, James, ich kenne dich schon seit Ewigkeiten. Du hast immer die Worte gefunden, etwas zu erklären. Frag doch keinen alten Mann, wenn du bereits weißt, was Sache ist.”, ,,Ich werde sie furchtbar vermissen.”, meinte er und seine Zunge wurde träge bei dem Satz. ,,Ja, das wirst du. Aber du musst das auch nicht machen. Du kannst bei mir bleiben, in der Stadt. Mit Bogrol, deiner Mutter.” James schüttelte sofort den Kopf. Jeff seufzte laut: ,,Dann fürchte ich, werden sich unsere Wege trennen. Ich fahre in drei Tagen mit dem Zug nach New Orleans.” Entgeistert starrte James ihm in die trüben Gucker. ,,Ich werde dort versuchen, einen ordentlichen Job zu finden und vielleicht meine letzten Tage... zu genießen.”, ,,Also werden wir deinen siebzigsten doch nicht zusammen feiern.”, maulte James enttäuscht. ,,Alles wird gut, James.” Er legte seine befleckte Hand auf seine Schulter. ,,Du bist so ein guter Junge.” Da tauchten Anne und Bogrol lachend am Eingang auf. Sie hielten Händchen. James machte ein erschrockenes Gesicht, obwohl er bereits wusste, wie nahe sie sich waren. Am nächsten Morgen brachten sie den Hut und ihre gute Laune wieder auf ihren Auftrittsplatz. Noch dazu kam eine kleine Band aus vier Mitgliedern. Eine Geige, eine Gitarre, eine Trompete und ein Akkordeon. Jeff war gekleidet ein weißes Jackett und weiße, faltenfreie Hose. Er hatte eine schwarze, perfekt geknüpfte Fliege um den Hals. Er sah wirklich aus wie ein Zirkusredener. Ein Mann aus der Mittelschicht. Aber das alles war nur ausgeliehen. Keiner von ihnen konnte sich sowas Schönes leisten. Sie versteckten die Musikanten hinter einem Laken. Er nickte Jeff zu, der etwas verwirrt zwischen den Seiten blätterte. Seine Hände zitterten. ,,Alles klar?” Er winkte die Frage ab. Dann holte er einen Zettel zwischen den Seiten hervor. ,,Dieses Gedicht ist von einem guten Freund.” Der Zettel war von Jeremys Handschrift gezeichnet. ,,Es ist ein Aufruf zum Tanz... Dein Schein, so bin ich doch nicht ganz allein. Die Freud, so weiß ich, was ich dir bedeut’. Schwingen im Regen, ein göttlicher Segen. Einsam war ich, doch nun hab’ ich dich.” Er las in der Melodie, die von den Musikern vorgegeben war, vor. Mit Liebe und Professionalität stimmten sie die Barcarolle von Offenbach an. Die Bürger liefen auf den Balkon, lehnten sich zu ihnen runter oder blieben einfach stehen und lauschten. Als der Vorhang beiseite ging, flog ein Lächeln über jedermanns Gesicht. ,,Wie wild das Feuer, so begann unser Abenteuer. Im himmlischen Sonnenglanz trafen wir uns zum Tanz.” James kannte das Gedicht. Das hatte ihm früher seine Mutter vorgetragen. Dabei hatte sie immer schwungvoll getanzt und lieblich gesungen. Den Leuten gefiel es genauso sehr wie ihm. Sie warfen ein paar Münzen in den Hut, den Archaniel ihnen vor die Nase hielt, und suchten sich einen Tanzpartner. Später verwandelte sich die ganze Straße in eine Tanzfläche. Alle kreisten wie fallende Blüten in ihren so unsichtbaren, dennoch schönen Kleidern. Sie leerten das Geld mehrfach in einem großen Sack aus. Nach und nach wurde dieser gefüllt. ,,Genial!”, trötete Jeff, ,,Es ist ein Wunder!”, ,,Es ist mindestens genauso viel wie früher.”, sagte James hoffnungsvoll, ,,Vielleicht können wir das wieder machen, was Robert? Robert?” Dieser achtete nicht auf ihn. Mit verschränkten Armen und seinen dunklen Augen durchsuchte er die Menge nach Gefahr. Und er fand sie. ,,Duck dich!”, kreischte er und drückte James runter. Ein lauter Schuss schreckte die Menge auf. Eine schwarze Kutsche fuhr ran und drei gut gerüstete Reiter verscheuchten alle Passanten. Das kleine Orchester verstummte und löste sich wie in Luft auf. Carl krabbelte hinter ein Fass und legte einen Stein in die Schleuder. Zwei Männer mit Gewehren schossen wie von Sinnen um sich. Holzsplitter zerfetzten den Vorhang, Keramik zersplitterte und Fenster zerbrachen. Archi drückte sich die Ohren zu um den ohrenbetäubenden Krach zu entgehen. Er sah aus wie ein verängstigtes Kätzchen. Es stank nach Rauch. Das Geschieße hörte auf und ein Mann mit Backen- und Schnurrbart stieg majestätisch aus der Kutsche. James wagte einen Blick aus seinem Versteck. Dieser Mann wurde von allen Seiten gedeckt. Herbert Junior stand breitschultrig und grinsend neben ihm. Sie sahen sich zum Verwechseln ähnlich. ,,Wo seid ihr Kids?”, krähte er mit brausender Stimme, die einem den Atem stahl, im negativen Sinne, ,,Kommt schon. Ich werde euch nicht erschießen lassen.” Carl warf einen Stein, den der Mann ohne große Mühe in der Luft fing. Einer seiner Schergen, ein hoher Mann mit Augenklappe, schleifte Carl vor seine Füße. Der Mann betrachtete ihn mit angeekeltem Blick und erdachte sich nur, wie er ihn am besten umbringen sollte. ,,Herbert, Sohn... Er ist doch nur ein Kind.”, ,,Er ist nicht allein!”, rief Robert und kam hervor. Als er ihn sah, erstarrte er und sein Blick füllte sich mit steinigem Hass. Hinter ihm kraulten James und Archi mit Holzsplittern in den Haaren hervor. ,,Ein paar Kinder und ein Bettler... Ihr bereitet meinem Jungen große Probleme, ist das so?” James’ Trommelfell hätte platzen können, als diese durchdringende Stimme durch die Stadt hallte. Er stellte sich im Schrecken vor, wie sich seine Lache anhören musste. ,,Ihr veranstaltet auf der Straße meines Sohnes verschiedene Feiern und stehlt ihm noch seinen Safe leer. Enttäuschend.” Er warf seinem Söhnchen einen herablassenden Blick zu und stieg wieder in die Kutsche, in der bereits ein weiterer Mann saß, den man kaum erkennen konnte. Er hielt einen geschnitzten Holzstab und tippte mit den Stiefeln auf den Kutschenboden. Herbert Junior fragte unterwürfig: ,,Was soll ich tun, Vater?”, ,,Vier Jahre Bürgerkrieg und mein Sohn kommt nicht mit einem Haufen Kindern klar. Überleg’ dir was!” Er warf einen Penny in den Hut und düste davon.

Im rechten Seitenfenster erkannte James ein rundes Gesicht eines Mädchens, welches die Jungs mitfühlend anblickte.

Sie lächelte ihn an, das sah er selbst durch das verdreckte Glas. Sie hatte weite, braune Augen und schöne blonde Haare, die ihr über die himmelblauen Puffärmel hingen. Er schaute dem Wagen hinterher, bis er ihn aus den Augen verlor. Die Stadt verschluckte alles, was auf den Straßen lief oder fuhr und James fühlte sich plötzlich so verdammt einsam.

,,War das dein Daddy?”, keuchte Carl, hielt sich dabei den Hals und robbte sich zu seiner Steinschleuder. ,,Ja das war er.”, antwortete Herbert hitzköpfig und drehte nachdenklich an seiner silbernen Revolvertrommel. Carl zauberte ein schmieriges Grinsen auf das beschmutzte Gesicht. Seine Haare fielen ihm über seine verstopfte Nase und er pustete sie weg. Die zwei Männer zielten auf die Restlichen. ,,Roth, Fire, holt mir ihr Geld!” Sie rissen Jeff den Beutel aus der Hand. ,,Wenn ich euch noch einmal hier sehe...”, drohte Herbert, ,,Werden die Zwei euch so oft anschießen bis ihr Blut spuckt. Nur damit das klar ist.” Er hatte die Macht, er hatte das Geld. Er konnte mit ihnen machen, was er gerade wollte. Die verängstigten Bürger bestaunten die Szene im Zittern und Stottern. Niemand würde es wagen sich einzumischen.

Doch auf einmal ergriff Carl die Offensive und schoss mit der Steinschleuder einen gewaltigen Stein an den Kopf des linken Mannes, Fire. Der Zweite, Augenklappen-Roth, feuerte auf ihn los, aber er war bereits hinter der nächsten Kiste versteckt. Die anderen Jungs flüchteten. Ihre Beine trugen sie wie Flügel über die Pflastersteine. Die Patronen gingen aus und Roth stand ratlos da. Carl rief aus letzter Kraft: ,,Deine Mutter tut mir leid!” und warf sich auf die Männer. Daraufhin verschwand er aus dem Sichtfeld. Die Jungen rannten um ihr Leben. Drei Jungs, drei unterschiedliche Schicksale, verbunden durch die Straße, die an ihnen vorbeizog wie im Zug. Sie lachten im Winde der Freiheit. Da packte Robert eine Schlinge am Bein und riss ihn zurück. Beim Aufprall riss er sich seine Hände auf und Blut strömte zwischen die Steine. Die Reiter holten ihn zu sich und waren davon. Nur das Klappern der Hufe und das entsetzte Geschrei der Menschen verrieten, dass sie wirklich da waren. Und sie hatten Robert geholt.

Sie stürmten in James’ Wohnung herein, riegelten alles ab und schoben alle möglichen Sachen vor die Fenster oder warfen Tücher über die Rahmen. James fing gerade noch das Bild seines Vaters auf als er das Küchenregal verschob. Verschreckt und deprimiert rutschten sie an der Wand runter und lehnten sich aufeinander. Archi fing an zu beten. So saßen sie zusammengerollt auf dem staubigen Holzboden. In aller Spannung fühlte es sich an, als würden die Stunden nur so vorbeiziehen. Dabei vergingen nur zwei Minuten. Endlich wagte James einen Blick aus dem Fenster. Im selben Augenblick trabte eine gesetzlose Reiterin an und sah sich genaustens um. James war schnell genug, ihren Augen auszuweichen. Er presste seine Beine an den Bauch und umschlang die Arme um sie. Er wollte dadurch Wärme spüren, doch er fühlte nur kalte Angst und hörte Archis verzweifelte Gebete, die genauso nachhallten wie sein schneller Herzschlag. Sie warteten bis das Pferd vorbeigaloppierte. Noch nie hatte sich James so sicher in seinen vier Wänden gefühlt, die so bedrückend auf ihn einwirkten. Er verging eine halbe Stunde. Langsam froren sie wieder auf und schoben alle Regale an ihren richtigen Ort zurück. James ertastete eine Brechstange im Vorraum, die er als Waffe nutzen konnte. Es klopfte. Archi sprang seitlich unter das Bett und spannte ein Stolperseil auf. Hinter der Tür wartete James. Seine blauen Augen starrten zum Griff, seine Hände hingen am Eisen, sein Atem wurde stockender. Er fasste sich zusammen und öffnete die Tür. Carl lief verschwitzt und Panisch rein und knallte sie hinter sich zu. In seinen Händen war das Geld, ein Winchester Gewehr und ein roter Patronengurt. Er wirbelte umher als hätte er heiße Kartoffeln an den Füßen. Dabei stolperte er über das Seil und Archi hätte fast mit der Brechstange auf ihn eingeschlagen. ,,Carly?” Er wollte ihm auf die Beine helfen, aber er schüttelte die Hand mürrisch ab. ,,Was ist passiert?”

Er antwortete nicht. Seine Stimme war wie abgerissen, nicht mehr vorhanden. Konnte wenigstens einer lesen oder schreiben, konnten sie sich verständigen. So verstand aber niemand, was er ihnen versuchte, zu erzählen. Carl bekam keinen Ton mehr aus sich raus außer das Magenknurren, welches darauf hindeutete, wie hungrig sie alle waren. Die Drei setzten sich an den Tisch und beäugten ihre eigenen, verkühlten Hände, die sie ordentlich gefaltet hatten. Die Splitter hatten sich tief in die Haut geritzt. Carl umwickelte sein blutendes Bein mit einem verstaubten Verband aus zusammengesetzten Stofffetzen. Seine Augen verfinsterten sich als Archi nach Robert fragte. Es war klar, dass die Knarrenmänner ihn zum Sheriff gebracht hatten, zu Bogrol. Carl zerbiss die Schnur mit seinen Zähnen. Zwei von ihnen fehlten. Sein Mund war voller Blut, welches an seinem Hals runterlief und sein weißes Hemd in ein blumiges Rot färbte.

Es war wie ein Kunstwerk.

James sah es vor sich und dachte augenblicklich an den alten Weg in seinem Dorf. Er lief in Zeitlupe darüber und lachte vor Glück. Die Wiesen waren grün, das Vieh stand darauf wie Punkte am Horizont. Alle Holzhäuser strahlten im weißen Licht der Frühlingssonne. Sie strahlte durch seine Haare und erhellte seine Augen. Die ihm bekannten Nachbarn winkten ihm wie einem kleinen Engel zu. Jeff ritt auf einem weißen Hengst an ihm vorbei und setzte dabei den Hut zur Begrüßung ab. Rote Rosen blühten an den frisch gestrichenen Zäunen und irgendwo in James’ Kopf erschallte eine friedliche Ouvertüre, die er immer auf dem verstimmten Saloonklavier gehörte hatte. Der Himmel rauschte wie ein Meer aus Erinnerungen. Sein Vater rannte mit ihm, froh, so froh. Im nächsten Augenblick lag er still am Straßenrand und sein Hemd war voller roter Rosen. Alles färbte sich rot. Gesetzlose galoppierten über seine Leiche und er schielte ihnen mit glasigen Augen entgegen.

,,James?” Archi rüttelte an seinem linken Arm und Carl tupfte seinen Hals mit einem Lappen ab. Plötzlich ergriff ihn blanke Wut wie ein Dämon seine Seele. Wo war der Sheriff, als er sein Zuhause verlor? Wo war der Sheriff, als sie seinen Vater töteten? Er brüllte und schlug mit der Faust auf den Tisch. Erschrocken und verwirrt guckten ihn die anderen an. ,,J-James... Wie wollen wir Robert wieder zurückholen?”, ,,Wir holen ihn nicht zurück.”, ,,Wie? Was? Warum?” Archi stammelte und blickte ungläubig zwischen ihm und Carl hin und her. ,,A-Aber Robert ist unser Anführer. Unser Freund.”, ,,In unserer Welt gibt es keine Freundschaft, kein Vertrauen. Er hat immer verrückte Ideen! Er bringt uns noch um! Ohne ihn sind wir besser dran. Oder... Wir hören ganz auf.” Carl tippte auf dem Gewehr mit einem Finger und zog eine Augenbraue hoch. ,,A-Aber James... Er würde das Gleiche für dich tun.” In Archis Worten war so viel Wahrheit und Vertrauen, dass James zusammenbrach vor Scham. Wie konnte er nur so etwas sagen? Er war jetzt in der Gang, ob er ginge oder bliebe, nicht würde sich verändern. Der Sheriff würde ihm seinen Vater nie zurückholen. Der Sheriff würde nie für ihn da sein, weil er nur ein kleiner, dummer Junge war, der niemals ein vollständiges Mitglied in den Vereinigten Staaten sein würde, sondern nur ein Abtreter.

,,Wir brauchen einen Plan.”, meinte er mit neuer Entschlossenheit, ,,Carl, weißt du, wo er seien könnte?” Er schüttelte träge den Kopf. Es war abzusehen, wie erschöpft sie alle waren. Auf einmal schloss jemand die Tür auf. Schnellstens rüstete sich Carl für einen perfekten Schuss. ,,James, ich bin zuhause!”, rief seine Mutter voller Energie. Ihre Bezahlung war an diesem Tag. Es roch nach Kartoffeln und Fisch. ,,Hallo, Mum!” Er zeigte mit hastigen Bewegungen, Carl solle das Gewehr verstecken. Anne kam lächelnd in die Küche, lief mit ihren Stiefeln über den knarzenden Fußboden, gab James einen Stirnkuss und begrüßte die Jungs mit einem verwunderten Blick. Sie sahen alle sehr dreckig aus und Carl wagte es nicht, sein Gebiss zu zeigen. Durch den Eingang kam Bogrol mit einem Sack Gemüse, vielen Dosen und einem frischen Lachs. Archi lächelte bis seine kindlichen Grübchen zu sehen waren. Bogrol legte die Einkäufe auf den Küchentisch und lehnte sich an Anne. Sie sprach vor Begeisterung stotternd: ,,Micheal hat uns angeboten, die Küche und den Boden zu renovieren. Es kam gestern eine große Holzlieferung an und er hat noch viel überig.”

Er nickte ihr lächelnd zu, aber als er sich zu den anderen wandte, verwandelte sich sein Gesicht in das eines wütenden Bären. Sein Blick fiel auf James. Seine dunklen Augen durchbohrten und schwächten ihn. Sie machten ihm Angst. Wenn er noch die Zähne gefletscht hätte, wäre er als Bären-Schaupuppe durchgegangen. Er hielt seine linke Hand in der Tasche seines grauen Mantels und die Rechte am Holster. Seine Stiefel waren recht sauber, doch sie verbargen nicht die tiefroten Blutstropfen auf dem Leder. Dem Mantel fehlte ein Knopf. Ein rundlicher, polierter Knopf aus Elfenbein. Knöpfe waren Roberts Lieblingsammlerstücke. Er hatte unzählige von ihnen in einer kleinen Schatulle unter James’ Bett gelagert. Robert musste Bogrol den Knopf abgerissen haben. Er wusste Bescheid. Aber warum nicht Anne? ,,Nun, Jungs... Wir brauchen eure Hilfe beim Aufbau.”, schob er ins Gespräch ein. ,,Klar, Mister Bogrol.”, antwortete Archi etwas bissig. Er war zwar gehörig, aber nicht naiv. Er war auch kurzbeinig, aber nicht langsam. Anne fragte liebevoll: ,,Wollen wir gleich anfangen, Michael?” James zog eine Augenbraue hoch und beobachtete die Blicke zwischen Bogrol und seiner Mutter. Es regte ihn auf, dass sie Bogrol nicht mehr Bogrol nannte, sondern mit seinem Vornamen.

Der Sheriff nickte und leitete die anderen raus, aber James packte er am Nacken und zog ihn zurück. So stark, dass dieser beinahe hinfiel. Sie wechselten einen intensiven Blick des Hasses. Die erfahrenen Augen eines Stadtsheriffs trafen auf die Glotzer eines diebischen Künstlers im Minderjährigenalter. Er fing an: ,,Wieso, James? Du warst so ein braver Junge. Was hat dich dazu verdammt, sich solchen Halunken anzuvertrauen? Glaubst du, sie werden dir jemals was Gutes tun? Mach dir dein Leben doch nicht unnötig schwer.”, ,,Es war schwerer, bevor ich angefangen habe.”, knurrte James und strich sich sanft über den Nacken, der noch schmerzte, ,,ich habe endlich Klarheit, Bogrol. Wir müssen und nicht den Reichen unterwerfen, denn sie bekommen immer, was sie wollen. Wir nicht. Also nehmen wir uns halt das, was uns zusteht.”, ,,Das wird nicht gut enden.”, ,,Wir machen nichts falsch.” Bogrols Auge zuckte und er seufzte tief: ,,Du wurdest manipuliert.”, ,,Von wem? Von wem denn, Bogrol? Ich sehe nur über die Tatsachen hinaus.”, ,,Du bist wie ein Sohn für mich. Tu mir das bitte nicht an! Tu das nicht deiner Mutter an!”, ,,Was juckt dich meine Mutter?!”, pfauchte James beinahe hysterisch. Bogrol fasste ihn an die Schultern und lächelte ihn voller Zuversicht an. ,,Lass uns einfach die Wohnung renovieren, ja? Du wirst sehen, dass das allerwichtigste nicht das ist, was wir bekommen, sondern das, was wir haben.” Vor dem Haus stand ein Wagen voller Holz, wie erwartet. Archi war gerade dabei, das große, schwarze Pferd zu streicheln und zu loben. Bogrol holte eine Handsäge und gab James eine Schachtel voller glänzender Nägel. Sie liefen zurück und brachen das halb-verrottete Holz des Küchenbodens raus.  ,,Vielleicht bauen wir eine Bühne zusammen.”, scherzte er, dazwischen rupfte er das kompostierbereite Zeug aus der Hausstruktur, ,,Ich meine, du kannst ja schauspielern.” Etwas Späne flog in seine stumpfen Bartstoppeln und James musste schmunzeln. Später wurde Carl beauftragt, nach Robert zu suchen. Ohne Erfolg. Es gab nichts, was von ihm übrig war. Selbst das Blut war bereits weggewischt. Bogrol rasierte sich in der Küche und James’ Mutter kochte Wasser über der Ofenplatte. Was war nur geschehen? Der Junge strich über das Foto seines Vaters.

Es war, als hätte es ihn nie gegeben. Es war erst ein Tag vergangen, aber er fühlte sich jetzt schon wie gefangen, auch wenn ihn kein Käfig oder irgendeine Kette hielt. Er hätte abhauen können - jetzt. Doch er wollte Anne nicht enttäuschen. Bis dahin ging es sehr gut mit dem Boden voran. Glück genug?  Bogrol schwärmte James vor, wie super das Leben als Sheriff war und zeigte ihm jede freie Minute seinen Stern. Als er merkte, wie desinteressiert James an diesem Thema war, legte er einen Arm um ihn und sagte: ,,Ich weiß, dass du deinen Kumpel Robert vermisst. Glaube mir, ihm geht es gut.”, ,,Wie kann es ihm gut gehen, wenn er gefangen ist?” Bogrol wandte sich von ihm ab, aber sein Arm blieb bei James. Dabei gab es ungewollt eine Geheimtasche preis. Sie lag im Mantel, fast unter der Achsel. Darin lag ein Schlüsselbund mit blauen Bändern. Im Schatten einer weiteren Tasche war eine Packung Patronen für den Revolver und etwas Öl für den Lauf. James grinste innerlich und legte auch einen Arm um Bogrol. ,,Es ist gut... Dass Robert sich gut fühlt... Richtest du ihm meine Grüße aus?”, ,,Auf jeden Fall.”

Der Sheriff ließ das aber nicht einfach stehen. ,,Wenn du mir versprichst, nie wieder gegen das Gesetz zu handeln.” Er war nicht ironisch. Es brannte auf seiner Zunge. James verkniff sich einen blöden Spruch und hielt seine Hand still um ihm nicht eine Backpfeife zu geben. ,,Einverstanden.” Er hielt ihm seine andere Hand hin und der Sheriff schüttelte sie ordentlich. ,,Und jetzt”, sprach er weiter, ,,machen wir deine Mutter glücklich.” Er stand auf, zog sein Hemd über die Hose und schritt nach draußen. James konnte sich glücklich schätzen, dass die anderen Zwei verschont blieben. Aber für wie lange? Das Haus war überwacht. Es gab kein Geheimnis mehr, keinen Ort zum Reden. Er hatte einen Plan, doch konnte er ihn den anderen nicht mitteilen. Bogrol nagelte die frisch gehobelten Bretter auf die Dielen. Sein Hammer donnerte mit aller Wucht auf das Metallstück. Alles vibrierte, als würde es auseinanderfallen. Jedoch musste man zugeben, dass alles perfekt passte. Archi und Carl liefen mit ungefähr sechs Rollen Tapete in die Wohnung. ,,Wir werden den Eingang auch renovieren.”, verkündete Anne, ,,Michael hat auch neue Möbel bestellt. Ist das nicht toll?” Sie erwartete eine positive Antwort, also zwang er sich ein Lächeln auf das Gesicht und umarmte sie. In Wirklichkeit war er verzweifelt.

Es war offensichtlich, dass sich Bogrol in die Familie einschleimte. Seine ersten Versuche waren bereits bei ihrer Ankunft.

Er überschüttete Anne mit Blumen und Pralinen, er hatte auch die Wohnung für sie gefunden. Er machte es möglich, in der Stadt zu leben und dafür war ihm James sehr dankbar, trotzdem wollte er ihn nicht bei seiner Mutter sehen. Bogrol konnte niemals seinen Vater ersetzen. Aber er musste sich damit abfinden, dass seine Mutter ihn sehr mochte. Wer konnte es ihr verübeln?

Bogrol war ein strammer Mann im mittleren Alter und freundlichen Gesichtszügen. Er hatte einen feinen Humor, war sehr fürsorglich und lebhaft, obwohl er manchmal mit Kleinigkeiten abgeben wollte. Finanziell abgesichert, waffentechnisch ausgebildet und tüchtig arbeitend. James hätte ihn mögen können, er mochte ihn auch, würde er sich nicht so beobachtet fühlen. James fragte dann: ,,Und was ist mit Archi und Carl? Sie müssen auch irgendwo leben können.” Alle im Raum wussten, dass diese Wohnung der einzige Unterschlupf für sie war. Sie hatten in dieser Zeit immer in James’ Zimmer auf Pappe und Decken geschlafen. Während es draußen stürmte, war innen Frieden. Falls sich etwas im Haus ändern sollte, und es würde sich etwas ändern, dann blieben ihm wenigstens seine Freunde. Dafür hätte Anne gesorgt, denn sie hatte die Jungs gern. Bogrol musste einwilligen, sie bleiben zu lassen. Genau richtig für James, in der Nacht den Plan zu erzählen. ,,Pst, Jungs.” Er wollte sie wecken, doch sie hockten bereits am Bettrand und lugten auf ihn mit aufgerissenen Augen der Neugier und des Versuchs, etwas im spärlichen Licht des Mondes zu erkennen. Ihre Gesichter erschienen blass wie die zweier Todesboten. ,,Ich habe einen Plan.”, flüsterte er, ,,Bogrol geht jeden Tag um 13 Uhr den direkten Weg zu Robert. Archi, du musst herausfinden, in welchem Office er steckt.”, ,,Nah, man.” Archi schüttelte energisch den wolligen Kopf. ,,Deine Mutter macht mit mir Kartoffelbrei. Carl muss sie ablenken.” Dilemma. James musste gehen. ,,Dann holst du die Schlüssel. Sie sind in einer Innentasche von Bogrol... Rechts oben, blaue Bänder.”, ,,Geht schnell.”, versprach Archaniel, der Meisterdieb und kicherte kindisch.

Es war alles bereit. Nur beunruhigte James der Gedanke, den er den anderen nicht verriet, dass sie nur diesen einen Versuch hatten. Robert wurde bald an einen anderen Ort verlegt werden. Und sie mussten ihre Flucht planen. Wenn er raus war, mussten sie weg, raus aus der Stadt, mit Wagen und Pferd. Genau wie die reisenden Händler. Gleich am nächsten Morgen schlich James aus dem Zimmer, um Bogrol noch zu sehen, bevor er die Wohnung verließ. Er lief ihm hinterher, geduckt. Sonnenstrahlen schienen wie helle Streifen zwischen die Lücken der Blocks. Bogrol hatte seine Hände in den weiten Manteltaschen. Er ging gleich in das Sheriff-Office seines Kollegen. Sein Eigenes war zwei Straßen weiter rechts, aber es war zu erwarten, dass Robert nicht dort versteckt war. Bogrol verschwand durch den gelben Türrahmen. An den Fenstern waren Gitter geklemmt. An einer wandbreiten Pinnwand steckten Kopfgeld-Aufrufe. Ernste, grimmige Gesichter von Mördern und Banditen schauten von den Blättern auf James. Jeder hatte mindestens ein Kopfgeld von 500 Dollar. Dazwischen steckte ein kleiner Brief mit einem 50-Dollar-Deal. Es war Robert und hinter seinem Gesicht waren drei weitere Papiere zu erkennen. James taumelte kurz, blickte sich nervös um und riss sie von der Wand. Er steckte sie in die Tasche und lief ins Office.

Ein leerer, leicht angekokelter Tisch stand im Warteraum, gegenüber drei Zellen. Er huschte an den Eisenstäben entlang und entdeckte im Schatten die Gestalt von Robert, zusammengekauert, mit dem Kopf in den Knien. James konnte sein Glück kaum fassen. ,,Volltreffer.”, murmelte er und warf auf Robert einen Knopf, den er zuvor aus der Schatulle entnommen hatte. ,,W-Was?” Als er James erblickte, schlitterte er von der Bank und krauchte zu ihm. ,,Was machst du denn hier?” Robert sah schrecklich aus. Seine Nase war gebrochen, er hatte lange Schrammen über seinem ganzen Gesicht und ein geschwollenes Auge. James sprach hastig: ,,Wir holen dich raus. Nimm!” Er drückte ihm einen dünnen Stahlstab, den man leicht als Dittrich nutzen konnte, in die zerkratzte Hand. Beide Arme hatten einen durchbluteten Druckverband an den Verletzungen. Alle Nägel waren blau. Herbert und seine Bande haben es wohl sehr genossen, Robert zu quälen, auch mit einem Hammer. ,,Heute Abend, 21 Uhr.” Er zeigte auf die Wanduhr hinter dem Tisch. ,,Und dann fliehen wir aus der Stadt.” Robert grinste, trotz der unvorstellbaren Schmerzen der gebrochenen Nase.

Plötzlich erhörten sie die Schritte von vier Stöckelschuhen. James richtete sich auf. Aus dem Nebenraum kam eine Frau, hochnäsig, mit einem breitflächigen Hut. Um ihre Schultern hing ein Gewehr mit teuren Einkerbungen, ihr Kleid war aus schwarzem Samt. Hinter ihr stand ein Mädchen. Sie hatte ihren Kopf gesenkt, aber James erkannte ihre Haare. Es war das Mädchen aus der Kutsche. Er verbeugte sich leicht vor den reichen Damen und grüßte sie. ,,Was hast du auf dem Boden gemacht?”, fragte die Frau angewidert. Er bekam keinen Ton raus. ,,Sprich geschwind!”, ,,Knopf- Dieser Junge hat meinen Knopf geklaut, lange her.” Robert reichte ihn zitternd durch das Gitter. ,,Sehen Sie?” Das Mädchen schaute etwas vom Boden hoch. Er blickte in ihre klaren, braunen Augen und lächelte schief. Sie erwiderte das Lächeln und senkte wieder den Kopf.

Da trat Bogrol ins Licht, doch bevor er James sehen konnte, war er hinweg. Er schaffte es, ins Haus zu schleichen, ohne dass es seine Mutter bemerkte. Es gab Kartoffelbrei und endlich wieder frischen Fisch. ,,Ich bin da!”, rief Bogrols Stimme vom Eingang. Während des Essens hielt Bogrol Annes Hand. Sie war glücklich, das war gut, trotzdem hätte James sich fast übergeben. Er befasste sich den ganzen Tag damit, seine Sachen für die Abreise zu packen und aufgeregt zur neuen Wanduhr zu schauen und dabei an das stille Mädchen aus der Kutsche denken. War das vielleicht Colli? ,,Ist alles in Ordnung, mein Schatz?”, wollte Anne wissen und streckte ihren Kopf durch die Tür. Ihre blonden Haare fielen über den Griff. Ihre blauen Augen waren voller Sorge. Ihr Sohn wurde langsam erwachsen, für sie war das nicht wirklich begreiflich. Sie hatte ihn lange nicht mehr gefragt, ob alles in Ordnung war. Er hätte sofort geantwortet – Nein. Es war nichts in Ordnung. Er wollte nicht weg. Nicht schon wieder. Er wollte nicht von seiner Mutter weg. ,,Ja, natürlich.” Er lächelte bitter und strich über das Bild seines Vaters.  ,,Wir haben lange nicht mehr geredet... Über alles.”

Sie schloss die Tür und trat ein. ,,Es hat sich vieles verändert-”, ,,Wirst du Bogrol heiraten?”, unterbrach er sie, ohne auch nur einen Blick zu ihr, aus Angst vor der Antwort. ,,Oh, James-”, ,,Ist schon okay. Ich sehe schon, wie sehr du ihn magst. Ich will nur, dass es dir gut geht.” Sie zögerte, eine zu schnelle Antwort darauf zu geben. Sie wusste, sie musste sich nicht rechtfertigen. Schließlich nickte sie und erzählte, dass es so schön in der Wohnung sei wie nie zuvor, und da hatte sie absolut recht. Es gab noch nie so viel Hoffnung in ihrem Leben. ,,Vielleicht sollten wir einen Neuanfang wagen.”, meinte sie, ,,Mit Michael. Er wird sich gut um uns kümmern, das hat er bewiesen. Es gibt nichts Sichereres als das.” James entgegnete: ,,Ich weiß nicht, ob das so einfach wird... So viel Veränderung in kurzer Zeit... Wie soll ich das nur schaffen? Jeff ist weg, Robert weg. Was ist, wenn die anderen Jungs auch gehen? Könntest du ohne mich auskommen?”, ,,Wie das?” Sie erschrak. ,,Ohne dich macht das alles hier keinen Sinn. Für wen mache ich das denn sonst? Michael und ich tun das für dich und deine Zukunft. Du willst doch eine Arbeit bekommen? Du willst doch leben wie alle anderen auch?” Er schlug seine Arme um sie und presste seinen Kopf gegen ihre Schulter. In Gedanken sagte er seinen Plan auf. Seine Mutter musste ohne ihn klarkommen – sie musste einfach. ,,Du bist mein Sohn.”, flüsterte sie liebevoll, während sie über seinen Kopf strich, ,,Mein großer Junge. Du weißt, das wird immer so bleiben.” Stumm lag er im Bett, Blick an die Decke. Das Fenster war offen, eine Brise erfrischte den Raum. Archi kniete vor dem Fensterbrett, rausschauend. Da tauchte Carl mit einem Holzwagen, der mit Gemüse beladen war, auf und winkte sie zu sich. Nacheinander warfen sie das Gewehr, die Patronen, etwas zu Essen, die Decken und Streichhölzer mit der Knopfschachtel zu ihm runter, geräuschlos wie Geister. Ihre Sachen wurden alle sorgfältig gestapelt.

Danach sprang Archi am Geländer runter. Bogrols Schlüssel klimperte in seiner Hosentasche. Bevor er sich zu ihnen gesellte, legte James die Kopfgeld-Steckbriefe ausgebreitet auf das leere Bett. Das musste als Erklärung reichen. Zum Abschied zeichnete er mit Wachs ein Herz an die Wand. Es sagte mehr aus, als hundert Abschiedsbriefe. Sie fuhren möglichst leise in die geistesstille Straße rein. Er fragte sich, woher Carl wohl den Wagen, inklusive das Pferd, aufgetrieben hatte. In den oberen Geschossen der Häuser brannten noch kleine Lampenlichter, die darauf hinwiesen, dass sie nicht ganz alleine waren. Das Sheriff-Office war beleuchtet, doch aus voller Kehle tönte das Schnarchen des Hilfssheriffs, der Wache halten sollte, über die ganzen Wohnungen hinweg. Robert war auch noch nicht frei. Die Außentür war nur mit dem Schlüssel zu öffnen. Vorsichtig kletterte James vom Sitz und fuchtelte mit dem Schlüsselbund umher bis er den richtigen Schlüssel hatte. Er entriegelte das Schloss und sogleich schlich Robert raus. Sie stiegen gemeinsam im Gemüseraum ein. Den Schlüssel nahmen sie mit. Alle Schlösser in der Gegend waren mit dem gleichen Muster versehen. Den Rest der Fahrt schwiegen sie alle. Robert legte seinen langen Arm um ihn und schaute ihn an. Er schaute ihn nur an, mehr nicht. Er vertraute ihm. Es wurde immer nächtlicher und entspannter, jedoch hielt Carl die Waffe stets beriet. Er lenkte das alte Zugpferd auf den Großen Boulevard, der direkt aus Horbly Town hinausführte. Durch die Straßenlaternen tauchten sich die Blätter der halbwüchsigen Linden in goldene Schillerstücke. Der Bahnhof zog an ihnen vorbei, der Laden von Billy. Sie sahen gemeinsam in die Nebenstraße, wo sie immer ihre Auftritte gaben. Es war ruhig. Es war gut.  

 

 

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