Ein Zug in Richtung Zuhause

Alle rückten zusammen.

Nervös griff Borislav nach Arcadijs Hand, im Wissen, er würde ihn verteidigen. ,,Das klang garnicht gut.", murmelte Gerda mit trockener Kehle. ,,Auch schon bemerkt?" Im Schatten der Stadt entsprang ein haariges Biest. Es sprang vom Dach zu Boden und rappelte sich automatisch auf. ,,Wolkov?", fragte Ark ungläubig, ,,Was ist denn mit dir los?" Es kam nur ein Zähnefletschen als Antwort. Wolkovs Auge leuchtete blau. Seine Mähne war verklebt und zerzaust. ,,Er hat kein Amulett.", ,,F.", murmelte Agro. Einen Herzschlag später schleuderte sich Wolkov in die Gruppe und schlug wie von Sinnen um sich. Seine scharfen Krallen streiften Lia, die aufschrie und taumelte. Der Werwolf war los.

Panisch rannten sie auseinander. Arcadij, Jasmin und Gerda in eine, Borislav und Lia in die andere Richtung, 

Dunkle Wände umhüllten sie von allen Seiten. Schwarz die Nacht, kalt die Luft. Sie rannten wie in einem Labyrinth aus Angst. Plötzlich blieb Ark stehen. Keiner folgte ihnen. ,,Wolkov ist wahrscheinlich bei meinem Bruder.", ,,Komm, wir holen Hilfe.", schlug Gerda vor und wollte weiterlaufen, da packte er sie am Arm ohne zu schauen und blickte starr auf eine helle Gestalt in der Gasse vor ihm.

Es war Angst. Die Katze hatte einen viel größeren Schatten, als bei gewöhnlichen Lebewesen. Ihre Pfötchen folgten aufeinander in einem ordentlichen Gang. Ihr buschiger Schwanz schleifte über den Boden und verwandelte alles hinter ihr in ein unendliches Meer aus Angst und Bange. Sie miaute leise. Das war das schrillste und unnormalste Miauen aller Katzen des Universums. 

,,Fürchtet euch.", sagte sie, ,,Habt Aaaaaangst." Arcadij rümpfte die Nase und trat dem kleinen Dämon entgegen. Für ihn wirkte sie wie ein Eisbär. Groß und mächtig. Sie sah auch schon gar nicht mehr aus wie eine Katze, sondern wie ein zerfetztes, kolossales Monstrum mit krummen Zähnen und Hörnern auf der vernarbten Nase. ,,Lass uns gehen.", ,,Sonst noch was?" Das Wesen grinste mit einem weiten Maul, welches aussah wie ein Trichter aus tausend scharfen Zähnchen.

Ein Heulen erklang von Oben. Es war aber nicht Wolkov, sondern Ivan. Mit einem Lichtglas aus reiner Magie überzog er Angst, die am Licht kratzte, sich jedoch eingestehen musste, nicht da raus zu kommen. ,,Wie hast du uns gefunden?", ,,Dämonen hinterlassen dunkle Spuren. Dieser ist noch ganz jung... Angstdämon. Er sieht für jeden anders aus. Aber er ist besonders gefährlich..." Er betrachtete die gelben Augen der zusammengequetschten Katze. ,,Er kann sich nämlich in Gedanken schmuggeln. Naja, jetzt wird er nichts mehr machen können." Er schaute zu den verängstigten Mädchen und lächelte mit seiner weißen Schnauze. ,,Shang und Phönix haben Wolkov vertrieben... Ihr seid also sicher und habt ein bisschen Material für den nächsten Unterricht.", ,,Ded... Ist dieser Dämon da im Glas gefählicher als Mit' Rhan.", ,,Optisch nicht, aber von den Fähigkeiten her... Ja."

Erleichtert lösten sich die Mädchen von der Stelle und wagten wieder zu atmen. ,,Mensch, Arcad.", flüsterte Gerda schockiert, ,,Das war... krass." Er grinste und sprach: ,,Ich bin ein sehr mutiger Mann, nicht wahr?", ,,Garkein' Zweifel." Ivan schaute lächelnd und mit schmalen Augen zwischen ihnen hin und her. Ark räusperte sich und ging geduckt davon.

 

,,Alles gut, Shang?" Eine helfende Tatze hob den erschöpften Pandai am Kragen. War das Morgal? ,,Morgal?", ,,Nein, ich bin Shang_Xi." Er stellte ihn aufrichtig hin und richtete den Hoodie. ,,Er ist mir entwischt.", ,,Wer?", ,,Wolkov." Shang 2 wirkte verwirrt. ,,Dein Meister? Bist du auf der Jagd nach ihm?", ,,Eher andersherum." Er zeigte Shang 2 das Amulett. Dieser fuhr mit der Tatze über seinen geflochtenen Bart. Danach fragte er, wer die jungen Leute hinter ihm waren. Es waren Borislav und Lia. ,,Was machst du eigentlich hier?", wollte Shang_King wissen. ,,Wohnen. Wie ein normaler Einwohner. Auch Lien, Han, Baihu und Pari leben in diesem Viertel.", ,,Wie lebt es sich hier?", ,,Naja, solange ich die Sprache kann, ist alles im Rahmen." 

Urplötzlich tauchte Ivan hinter ihm auf und richtete seine Klinge auf Shang 2s Rücken. ,,Keine Bewegung. Ich bin ein ehrfahrener Dämonenjäger also wage es nicht, wegzurennen.", ,,Und ich bin kein Dämon."

Shang 1 überredete Ivan, Shang 2 mitzunehmen.

Arcadij und Borislav folgten brav.

Vor Serkans Haus war der Teufel los. 

Überall lagen leere Bierflaschen, ein offenes Fass, zerrissene Blätter und zerbröselte, alte Kuchen. Auf dem Treppensims lag Donnerhau, der ihnen zuwinkte. Er sah so glücklich aus, dass man denken könnte, er hätte das Fass leergetrunken. Die Tür war sperrenweit offen und die Neuankömmlinge rasten hinein.

Die Szene war dramatisch. 

Elvinaria trank im Handstand ein Bier, Dokitura durchbrach eine Tür und fiel hin, Serkan warf berauscht mit Blätten um sich, Interru tanzte mit einem Zombie, welcher zufällig vorbeikam. Die Drachenbabys hingen an der Decke, Vivaldi jagte seinen Schwanz, Weißfleck bediente sich am Salat in der Küche und Bo saß frustriert auf dem weißen Ledersofa in der Mitte des Wohnzimmers. 

,,Um Gottes Willen, Bo, was ist passiert?" Sie fiel Shang 1 und Shang 2 gleichzeitig um den Hals. ,,Es ist so gut, euch zu sehen... Etwas war im Bier. Es ist nicht abgelaufen und garnichts, aber sie brauchten nur einen Schluck zu nehmen und schon ging hier die Hölle los. Pieksi brachte Maja ins Bett.", ,,Wo ist Ilai?", schnauzte Ivan finster. ,,Beim Computer-" Sofort hetzte der Werwolf die Treppe hinauf. 

Ilai hockte ganz gemütlich mit ein paar Chips und einer halbleeren Wasserflasche vor dem PC. Die Kopfhörer lagen perfekt auf den Ohren und seie struppige, gelbblonde Frisur wurde von einem schwarzen Streifen durchschnitten. Wutenbrannt klatschte Ivan an den Lichtschalter. ,,WO IST DER STICK?!" Er packte den ahnungslosen Ilai am Kragen und schüttelte ihn. ,,Welcher Stick?", ,,Tu nicht so dumm! Der Stick, der neben dem Computer lag!" Endlich ließ er ihn los. ,,Wo ist er?", ,,Ich habe keinen gesehen."

Ivan knurrte mit grolltiefer Stimme: ,,Auf diesem Stick sind die Daten drauf, die benötigt werden, um meine Enkel nicht nach Tridàs schicken zu müssen.", ,,Es tut mir leid, aber ich habe nichts." Ivan entspannte seine Gesichtsmuskeln und starrte zu Boden.

,,Was ist los?", erfragte Arcadij, der bei der Tür stand. Ivan antwortete ihm: ,,Ich fürchte, du kannst hier nicht bleiben. Du wirst nach Tridàs zurückkehren und dann... Niewieder zurückkehren." Ivan schaute zu ihm. ,,Freust du dich?" Ark sagte nichts. Er verkrampfte sein Gesicht und seufzte: ,,Ich weiß nicht..." Borislav stellte sich neben ihn und strich vorsichtig an seinem Arm. ,,Es wird spät.", nuschelte Ark in sich zusam-mengekehrt, ,,Komm, wir gehen."

 

Der nächste Schultag begann nicht wie üblich.

Arcadij war einer der ersten im Zimmer und starrte aus dem Fenster. An seinem ernsten Blick war zu erkennen, dass er nicht lachen und auch nicht reden wollte. Als Serkan den Raum betrat, stand er immernoch am Fenster und rief jedem Vorbeigehenden etwas zu. Das machte er oft, aber dieses Mal... war es anders. Zum Beispiel fehlte kein Stück Kreide von der Tafel, welches er eigentlich rausschmiss.

Serkan rieb seine Stirn. Er hatte keinen Kater, aber Ohrendrücken und ein Lichtglas mit einem Dämonen in der Tasche. Er stellte es auf den Tisch und verkündete das Thema. "Dämonen"

,,Was zeichnet sie aus? Wie entstehen sie genau? Wie arbeiten sie? Wir haben schon mit diesem Thema angefangen, aber hier ist ein echter Dämon." Er reichte das Glas durch die Reihen. 

Angst wirbelte darin umher, wie ein kleiner Tiger. ,,Kann mir jemand sagen, welche Art von Dämon das ist? Eliot!", ,,Angst, Sir.", antwortete er. ,,Einwandfrei. Wie hast du das erfahren?", ,,Die Ausstrahlung. Man hat plötzlich ein enges Angstgefühl.", ,,Das ist richtig. Je länger man in der Nähe eines dieser dunklen Wesen ist, desto wahnsinniger wird man."

Als Shang das Glas nahm, fiel es ihm beinahe aus der Hand. ,,Alles okay?", wisperte Bo besorgt. Er antwortete schnell: ,,Ja! Ja, klar." Angst stach mit ihren Augen Löcher in seine Seele. Er gab das Glas schnell weiter.

Arcadij nahm es nicht einmal in die Hand. 

Nervös trommelte er mit den Fingern auf die Tischplatte.

Nach dem Unterricht schlich Shang zum Glas mit Angst innen.

,,Lass mich raus!", ,,Wieso sollte ich?"

Sie schnurrte: ,,Ich bin dein Dämon. Dein Wunsch ist mir Befehl." Shang lief hin und her. Nachdenklich schwankte er. ,,Dann ist das mein Wunsch: Lauf weg. Lass mich und alle auf dieser Welt in Ruhe. Verschwinde als wenn du nie exestiert hast. Verzieh dich in eine Höhle und schlafe für immer ein. Wirst du das tun?" Angst wechselte ihre Position. ,,Wie du wünschst." Er öffnete den Deckel und die Katze sprang raus. Sie blickte ihn finster an und sprach ruhig: ,,Warte nur ab... Wenn Taifun die Welt erobert hat, und das wird passieren, werden wir Dämonen auferstehen und alles in den Wahnsinn treiben, was über unseren Weg läuft."

Am nächsten Tag gab es einen Ausflug zum Winterwald um Magie zu erlernen. Arcadij war es von Serkan verboten worden, es nur zu versuchen, Magie anzuwenden. Anscheinend wusste Serkan mehr, als Ark selbst, welche Magie er hatte.

Gerda nutzte einen magischen Windbogen, um das Ziel in der Mitte zu treffen, aber sie traf nicht. Trotzdem motiviert machte sie weiter. Arcad spitzte die Holzspeere mit einem Taschenmesser und beobachtete die Klasse mit seinen grimmigen, braunen Augen. ,,Mädel, schaffst du es mal auch?", rief er zu Gerda, ,,Das triggert mich!", ,,Versuch du es doch!" Mel schaute nicht sehr wohlwollend zwischen ihnen hin und her. Ark steckte den Speer in die Erde, packte den Bogen und hielt ihn horizontal, wie eine Armbrust auf das Ziel. ,,Ich muss euch Ladies aber warnen, ich bin ein sehr guter Schütze.", ,,Mach halt.", forderte Mel mit zickigem Unterton und fuhr sich durch ihre glatten, grau-braunen Haare. Er spannte den Bogen mit der rechten Hand, schloss sein rechtes Auge und ließ den Pfeil sausen. 

Perfekte in der Mitte.

Mel musste verblüfft klatschen und er lockerte seine Schultern. ,,Seht ihr?", ,,Impressed.", sagte Gerda begeistert, ,,Das musst du mir auch mal zeigen." Sein Lächeln schwand und er senkte den Kopf.  ,,Ich muss garnichts!", fauchte er lauthals, ,,Und... Du bist sowieso hoffnungslos im Bogenschießen." Gerda riss ihre blauen Augen auf und fragte sich kurz, was los war. Aber was hat sie erwartet? 

 

Shang räumte Serkans Haus komplett um. Kein USB-Stick. Nirgendwo.

Irgendwann sackte er zusammen und starrte auf die Uhr. Maja tillerte auf ihrem Handy rum und er wagte zu fragen: ,,Warst du wirklich Serkans Sekretärin?", ,,Nicht wirklich. Er hat das meiste gemacht." Sie lächelte. ,,Er hat mir vieles beigebracht, weißt du? Und kam dann auf die Idee, mich zu adoptieren. Ich fühlte mich noch so geliebt!", ,,Wo sind deine echten Eltern?" Sie legte das Handy beiseite und starrte mit ihm auf die Uhr. ,,Tot, denke ich. Taifun hat dafür gesorgt, dass ich keine Unterstützung habe. Das hat mich abgehärtet. Was ist mit deinen?" Shang seufzte: ,,Mein Vater war einer von seinen Leuten. Auch tot. Meine Mutter ist verschwunden. Entführt. Ich lebte nur bei meinem Onkel. Er ist auch gestorben. Seit dem bin ich bei Dokitura. Aber das ist kompliziert... Wir waren nie wirklich beisammen als Familie, oder wenigstens Brüder." Beide schwiegen etwas. Maja verschränkte die Arme vor dem Bauch und atmete schwer auf. 

Shang_King sprach einen Gedanken aus: ,,Wieso hat der Erwähler mich erwählt? Bin ich würdig? Habe ich königtliche Wurzeln? Ist etwas an mir besonders?" Sie zuckte die Schultern und sagte, er hätte schon seine Gründe. ,,Aber ich wäre definitv organisierter. Ich würde niemals einen Stick einfach liegen lassen.", witzelte sie, ,,Nur, dass Arcadijs Familie leiden muss, tut mir leid.", ,,Ich habe es ja versucht!"

Er stand auf und holte sich ein Buch aus dem nächsten Regal.

,,Mag Bo Bücher?", fragte er.

 

Arko starrte auf seine gepackten Koffer. Die Wohnung wurde geräumt und Wasilisa schimpfte mit den Umzugshelfern auf russischer Sprache. ,,Mam.", beruhigte sie Borislav, ,,Uspokojsa (entspann dich). Wsjeu budet horoscho (alles wird gut)." Sie tupfte sich die Tränen von den Wangen ab und Borislav umarmte. Ark stand auf und hielt seine Arme um die kleine Familie. 

Die Koffer wurden auf einen Transporter verladen mit einigen anderen Sachen von wildfremden Menschen. Alle folgten in einer langen Schlange hinter ihren Besitztümern. Sie liefen auch an dem Gymnasium vorbei. Traurige Gesichter waren von beiden Seiten zu erkennen. Ark schaute hoffnungsvoll in die Fenster um Mels Blick aufzufangen, aber sie starrte auf ihr Handy. Er hätte ja gerne eine Rede gehalten. Wieso er geht, wohin er geht. Aber das wusste er selbst nicht. Doch er hatte nicht erwartet, dass der Abschied so schwer sein würde. 

Shang senkte enttäuscht den Kopf. Wahrscheinlich war das ein Zeichen. Er hat es nicht geschafft, Arko in Hebriel zu behalten, wie inkompetent ist er also auf dem Platz des Königs?

Herr Deister und Gerda blickten nachdenklich aus dem Fenster. Ohne Worte. Es war sowieso nicht auszudrücken, was sie fühlten. 

,,So.", verkündete Serkan im Atrium, ,,Schulfreier Tag für heute." 

Kurz und deutlich.

Perfektes Timing, um Shang richtig auszuschimpfen. Das tat Gerda auch. ,,Wie konntest du nur?!" Er wich erschrocken zurück. ,,Es tut mir ja leid.", ,,Tut es das? Oder war das deine süße Rache, dafür, dass er dich gemobbt hat damals? Wach auf, Shang! Er kann zwar gemein sein, aber sowas hat er nicht verdient."

,,Es war nicht Rache! Einfach nur..."

,,Was?"

Er sah, wie Gerda mit aller Kraft versuchte, die Tränen zurückzuhalten.

,,Ich bin der König.", sagte er dann selbstbewusst, ,,Ich werde dafür sorgen, dass der Zug anhält!" Mit diesen Worten rannte er los und zog Bo mit sich, die gar nicht wusste, was abging.

 

Im Marsch der Tridàner spielte irgendwer auf dem Akkordeon und Frauen sangen in düsteren Tönen dazu. Vor ihnen erkannte man schon den Bahnhof und hörte die Dampflock anfahren. 

An den Seiten der Straße standen Protestanten und bewarfen sie mit Beleidigungen und Essen. 

Erinnerungen brachen über ihn ein.

Dieser traurige Marsch... Er kam ihm schon bekannt vor. Damals vor ungefähr fünf Jahren. Nur waren da keine Proteste zu hören, sondern Schüsse und Angstschreie. Der Zug, der sie gerettet hatte, brachte sie nun wieder zurück in den Tod.

Am Bahnsteig luden sie alle ihr Gepäck ab und warteten auf ihren Eintritt. 

Der gemischte Atem der Menschen stieg mit Dampfwölckchen zum Himmel empor. Kalt war die Luft. Die Lokomotive glänzte im dunklen Grau, rot funkelte der Stern auf der Rauchkammertür. Dieser Stern sah noch genauso aus, wie in seinen Erinnerungen. Und plötzlich spürte er keine Angst mehr. Egal, was man sagt, es war seine Heimat. Auch wenn er sich die Rückkehr anders vorgestellt hat, war es ein glücklicher Anlass, oder nicht?

Seine Augen erfassten plötzlich eine sehr suspekte Person.

Mit suspekt meine ich, eine Person, die anderen gezielt ausweicht und sich im Schatten der Wand vorbeischleicht in eine dunkle Gasse zwischen zwei Verwaltungsgebäuden huscht. Dabei trug diese Person ein Tuch, welches die Nase und den Mund bedeckte. Sie bemerkte Arkos Blick und starrte mit zwei großen, lila Augen zurück. 

Eine andere Person, offensichtlich ein Mann, wartete bereits dort und übergab Person 1 etwas Kleines in die Hand. ,,Wird schon nichts besonderes sein.", dachte er sich, ,,Diese kleinen Geschäfte kenne ich selber." 

Mittlerweile stiegen die ersten in den Zug, aber auch kamen die protestierenden Menschen näher. Ihre Schilder bedeckten das Sonnenlicht, ihr Gebrüll übertönte die Dampflok und ihr geworfenes Essen überflutete den Boden. Ein lautes Husten machte ihn aufmerksam. Ein älterer Tridàner schlug sich durch die Menge. Er wiederholte wie eine kaputte Schallplatte: ,,Prostite! Isvinite!" Was soviel heißt wie Entschuldigung. Er stolperte raus und spuckte Blut auf den Boden. ,,Pomotsch (Hilfe)?", fragte Borislav, jedoch winkte der Alte ab.  Er rappelte sich mit letzten Kräften auf und fing wieder an zu husten, dabei fiel er Borislav in die Arme. Ark sprang zu seinem Bruder und riss den Mann von ihm ab. 

Borislav stützte den Fremden mit aller Stärke, doch er hörte nicht auf zu husten. ,,Bolna (Schmerzen).", klagte er, ,,Umeraju (Ich sterbe)" Und da fiel er wie ein Baumstamm um. Erschrocken wand sich Borislav von der "Umarmung" des Toten und kroch zu Ark, der schwer atmend auf den Boden schielte. ,,Du hast Blut im Gesicht.", murmelte er zu dem Jüngeren, ,,Komm, wir gehen.", ,,Einfach so?! Da liegt ein Toter!"

Einen Augenblick später brach Panik aus und alle strömten in den Zug. ,,Na toll, Mützi, sag das halt noch lauter!", ,,'tschuldigung."

Wasilisa packte beide an den Armen und schleifte sie in die nächste Kabine. Sie nuschelte etwas vor sich hin, aber niemand verstand etwas. 

Die Menschen brachen durch die Barriere und schleuderten mit Steinen an den Zug. 

Jetzt fuhr er los. 

Ein Drönen ertönte und die metallischen, schweren Räder fuhren über die harten Schienen. 

Borislav zog die Vorhänge an dem Fenster zu und ging mit seiner Mutter los um nach Decken zu fragen. ,,Arcad, ti snami (Arcad, kommst du mit)?", ,,Net. (Nein) Mne nado oddachnutj (Ich muss mich ausruhen)."

Er lehnte sich zurück und schloss kurz die Augen.

Für einen Moment war er nicht in einer kleinen Kabine mit zwei Doppel-stockbetten, einem kleinen Tischchen und einem Fenster mit gelblichen Vorhängen. Er war wieder in der Klasse und lachte mit seinen Kumpels, riss einen Witz oder lernte einfach etwas. Mel schaute ihn an und er verlor sich in ihren Augen. Wieder war er der verliebte, junge Arcadij. 

,,Hörst du überhaupt zu?", fragte Gerda und rüttelte an seiner Schulter. ,,Hm? Sei still, Gerda!"

Eingeschnappt wandte sie sich von ihm ab.

War das falsch, was er gesagt hat? 

Plötzlich fühlte er etwas, was er nie zuvor gefühlt hat. Es war Reue.

Er öffnete seine Augen und erblickte einen wunderschönen Sonnenstrahl hinter den Vorhängen. Er öffnete das Fenster und streckte den Kopf raus. Mit den Ellenbogen stützte er sich am Fensterbrett ab. Der Wind wehte ihm durch die Haare. 

Die Landschaft veränderte sich. 

Aus Fichtenwäldern wurde eine weiße Landschaft mit wunderschönen Birken. Ihre weiße, glatte Rinde und ihre kleinen Blätter... Das waren Erinnerungen. 

Doch der Gedanke an den toten Mann und sein abgebranntes Zuhause sog ihn zurück in die Realität. Und da wünschte er sich einfach, der Zug würde anhalten und dass die Zeit stillstehen würde...

 

Phönix gallopierte in einem Wahnsinnstempo zum Rathaus. Dabei hinterließ er eine Flammenspur auf dem Asphalt. Shang sprang mit einem Ruck ab und stürmte hinein. Hinter ihm rannten Ivan mit der grimmigsten Miene, die man sich vorstellen konnte und Bo, die immernoch nicht verstand, um was es ging, aber trotzdem rannte. In seiner Werwolfsform sah Ivan sehr bedrohlich aus. Die Wachen ließen sie einfach vorbei und zuckten mit den Schultern. Ihr Sandwich war gerade interessanter.

,,Mrs. Pablo!", kreischte der König und hielt sie an, ,,Wir müssen reden." Sie blickte auf ihn herab wie auf einen bemoosten, alten Stein. Sie selbst sah nicht viel besser aus. Arnold stand hinter ihr und ihr dicker, mit Süßigkeiten vollgestopfter Sohn Tudran. ,,Der König. Wie nett. Wollen wir erst ins Büro?", ,,Nein- Jetzt klären wir das!"

,,Nicht mit dem Werwolf an Ihrer Seite."

Ivan verwandelte sich in einen Menschen zurück.

,,Um was geht es?", ,,Sie wissen genau, um was es geht."

Sie grinste höhnisch. ,,Es ist zu spät.", ,,Nein, ist es nicht. Der Zug ist noch nicht über die Grenze hinweg.", ,,Eine Fahrt nach Tridàs dauert im Durchschnitt drei Tage. Entspannt euch alle!" 

,,Denken Sie, ich kenne die nonngarder Bürokratie nicht?!", fauchte Ivan in ihr Gesicht, ,,Wir klären das JETZT."

,,Was wollt ihr schon machen?", lachte sie, ,,Habt ihr etwas gegen mich in der Hand?", ,,Meine Rechte.", antwortete Shang_King und Ivan übergab ihm seine Krone. Er fuhr fort: ,,Entweder sie halten sofort diese Operation an oder ich entmachte Sie und verbanne Ihre Familie."

Das war seine erste Drohung, die er jemals gemacht hat. Meistens hörte er das nur von Arcad oder Han.

Mrs. Pablo fummelte an ihrer Halskette mit einer winzigen Nummer darauf. Bo Hua prägte sich die vier Zahlen ein. Es waren 6471. 

,,Nun, wenn das so ist..." Mrs. Pablo rief jemanden auf ihr Telefon an. ,,Ja, halte sofort den Zug an- Nein, nichts besonderes. Der König hat es befohlen- Ja, er ist hier-" Sie riss kurz ihre Augen auf, aber entspannte sich wieder in eine finstere Weise, als ob sie genau auf das gewartet hat. ,,Ja, mein sturer Freund, mach das was ich dir sage! Halte den Zug an- Freut mich! Freut mich! Das Auge wird glühen." Sie legte auf und hob ihre Hakennase. ,,Also. Holen Sie ihre Tridàner ab." Ivan eilte sofort los.

,,Ich muss euch aber warnen... Ich werde dafür sorgen, dass die Tridàner die Hölle auf Erden erleben werden.", ,,Werden Sie nicht."

,,Sie können mich nicht aufhalten, kleiner König. Ich habe Mit' Rhan unter meinen Füßen.", ,,Ich habe Phönix vor der Tür.", konterte Shang und lächelte schief, ,,Ich danke Ihnen für die spontane Aktion, jedoch befürchte ich, dass ihre Geheimnisse früher oder später an die Öffentlichkeit gelangen." Mrs. Pablo lachte: ,,Und wen interessieren meine Geheimnisse?" Ihr Lächeln verwandelte sich schlagartig in ein eiskaltes Fauchen. ,,Wacht auf! Das Königreich gehört nicht Ihnen. Sondern Taifun. Seine Anhänger suchen nach Ihnen, seien Sie gefasst. Und noch etwas- (beugt sich über ihn) Lassen sie USB-Sticks nicht überall liegen, sonst werden sie noch gestohlen und verkauft."

 

Der Zug hielt langsam, aber allmählich an. Borislav, wie auch weitere Mitfreisende, streckten ihre Köpfe raus. Der Frühlingswind wirbelte etwas Dreck auf und riss seine Mütze mit. Er wollte sie noch fangen, aber sie lag weit unter ihm. Plötzlich tauchte etwas Weißes und Pelziges im Birkenwald auf, hielt keuchend an und hob das Stück Stoff auf. ,,Sdarova (Gun' Tag).", sagte Ivan mit einem Lächeln, welches von der Sonne beschienen wurde, ,,Ich musste elf Meilen rennen, um diesen verdammten Zug einzuholen. Ich erwarte wenigstens eine Umarmung!" Arcad und sein Bruder sprangen ihm sofort in die Arme und drückten ihren Großvater ganz fest.

Arcadij fragte mit zitternder Stimme: ,,Können wir wieder zurück?", ,,Natürlich, Arcad, natürlich. Aber vorher bringen wir diesen ganzen Zug zum Bahnhof. Rückwärtsgang!" 

Er stieg vorne beim Fahrer ein und zog an irgendwelchen Hebeln. Agro versuchte sie sich einzuprägen, aber was kann man sich bei dem ganzen Durcheinander schon merken?

Aus der Lock entstieg ein lautes DRÖN und sie fuhren, unter allgemeinem Beifall, rückwärts nach Nonngard.