Der Wald

Angespannte Stimmung. Schon wieder. Arcadij zitterte nervös mit den Beinen unter dem Tisch. ,,Also.", fing Wolkov an, ,,Um den Ernst der Lage zu verstehen: Taifun ist da draußen und es gibt Löcher in unserem Schutzschild. Wir wissen nicht, welche Wesen schon hier eingedrungen sind. Unter anderem Dämonen und Geister. Dokitura und Pieksi werden sich auf die Suche nach dem Wendigo machen, um die Löcher zu flicken und ich werde sie begleiten." Überrascht starrte ihn die Gruppe an. ,,Es ist wichtig, dass jemand mit Erfahrung mitkommt.", meinte er ernst, ,,Ivan wird auf euch aufpassen. Also keinen Quatsch machen.", ,,Heißt das, dass ich allein zur Schule gehen darf?", fragte Shang hoffnungsvoll. Wolkov nickte ohne Emotionen. ,,Geil.", rutschte Ark aus. ,,Aber trotzdem gefährlich.", fügte Dokitura hinzu, ,,Seid vorsichtig.", ,,Hehe, du denkst, ich bin nicht gerüstet?", erwiderte Arko grinsend, ,,Ich lebe hier mein halbes Leben lang. Ich kenne alles!", ,,Aber eben nur den halbes Leben. Nicht entspannen, Soldat.", ,,Ich hasse Krieg.", fauchte Arcadij. ,,War nur so ein Ausdruck."

Wolkov fuhr fort: ,,Kümmert euch um eure schulischen Leistungen.", ,,Klar...", ,,Du auch, Ark! Wir brauchen dich noch im Schulhaus.", ,,Ich werde endlich mal gebraucht. Ich werde sie nicht enttäuschen, Boss!", ,,Das hast du bereits."

Am Abend holte Wolkov Meteor aus seinem Stall. ,,Schreib mir jeden Tag!", erklärte Doki Shang, ,,Über das Handy hier.", ,,Bleib du lieber am Leben.", sprach Shang und umarmte seinen großen Bruder. ,,Pff, kitschig.", zischte Ark, ,,Wer von euch beiden ist eigentlich der Alpha?", ,,Sind wir in einem Rudel? Wir sind Brüder.", ,,Unterschied?" Doki winkte nur noch ab. Shang wollte sich auch von Wolkov verabschieden, doch dieser ignorierte ihn, was ihn etwas wunderte.

,,Wir sind noch vor dem Treffen mit Taifun zurück!"; versprach Dokitura, zündete seine Laterne an und flog mit den anderen in einer Sternenkette in Richtung Ost.

,,Und tschüss."; kommentierte Arcadij. Shang blickte ihm in die feurigen Augen. ,,Hast du deine Hausaufgaben zu morgen gemacht?", ,,Was war denn auf?", ,,Aufsatz schreiben?", ,,Oh." Er kratzte sich am Hinter-kopf. ,,Ich denke, ich bekomme wohl wieder eine sechs. Na gut. Man kann ja nichts ändern." Mit diesen Worten schritt er die Straße hinauf zu seiner Wohnung. ,,Und im Arbeitsheft Seite 16? Auch nicht gemacht?", ,,Glaube nicht."

 

Über den Wolken war es zwar kalt, aber nicht nass. Noch weiter oben leuchteten die silbernen Sternchen und unter ihnen trieben sich graue Schwallen an Wasser zusammen. Tag und nacht flogen die drei nach Noràli. Es kam einem vor wie Jahre, es waren aber nur Stunden. Zum Glück munterten sie Shangs Berichte auf. ,,Müssen wir das Handy bald laden?", fragte Pieksi. Doki antwortete kurz: ,,Nein. In einer Woche erst, weil wir es eher selten benutzen.", ,,Bis dahin sind wir zurück.", meinte sie, ,,Was meinst du, Wolkov?" Dieser schwieg drei Tage lang durch. Kein einziges Wort wich aus seinem Maul (soll keine Beleidigung sein. Er ist halt ein Werwolf. Da kann man nur schwer "Mund" dazu sagen)

Als sie die Grenze zum Sultanreich überquerten, stiegen sie noch weiter auf. Und irgendwann, nach gefühlt Jahrtausenden, landeten sie unversehrt auf den Ruinen des alten Tempels. ,,Und das war euer Dorf?", wollte Dokis Freundin wissen. ,,Ja. Taifun hat alles verbrannt, was da wäre." Wolkov sprach zum ersten Mal seit Langem: ,,Lasst uns dort hin gehen und Blumen zu Boden legen." Das taten sie auch. Vor einem Aschehaufen legten sie alle möglichen Blumen nieder und trauerten eine Weile. ,,Mein Großvater Li ist hier gestorben.", ,,Und viele weitere Pandai.", fügte Wolkov grimmig hinzu, ,,Genug der Traurigkeiten. Lasst uns den Wald der Erinnerungen betreten." Plötzlich fiel ein Haufen Federn vom Himmel. Naja, es waren zwei kleine Falken, die sich ineinander verfangen hatten. ,,Rob, Bob, was macht ihr denn hier? Ich dachte, ihr wolltet nicht mitkommen.", ,,Hallo, Dokitura, wir haben nochmal darüber nachgedacht und kamen zum Entschluss, doch zu kommen.", sagte der Rote mit gepresster Stimme, ,,Sonst würden wir euch in den sicheren Tod schicken." Dann verwandelten sie sich zurück. ,,Uff, wie bist du auf die Idee gekommen, mir vorne rein zu fliegen?!", rief Bob sauer. ,,Ich bin dir reingeflogen? Wohl eher hast du vollkommen ohne Grund angehalten!", ,,Quatsch mit Soße! Ich bin sehr vorsichtig, was diesen Ort betrifft. Ich würde nicht einfach so anhalten.", ,,Und ich würde nicht vorne reinfliegen!", ,,Jungs.", unterbrach Pieksi die streitenden Geister, ,,Konzentration. Wir betreten gleich einen sehr gefährlichen Ort."

Meteor und Anduin folgten ihnen so leise wie Mäuse, nicht wie große Greifvögel. Rob und Bob schlängelten sich als Schlangen zum Tempel. ,,Und wie öffnen wir den Eingang?", erkundigte sich Doki. Wolkov streckt beide Vorderpfoten in die Luft aus und schloss die Augen. Er öffnete langsam sein Maul und hauchte einen weiß-bläulichen Schein aus. Dieser flog genau auf den Eingang zu und erleuchtete ihn von innen. ,,Oh Peteus, lass uns eintreten in den Wald der Erinnerungen." Der Rest wurde Zeuge eines wunderschönen Spektakels;

Aus der Erde wuchs eine kleine Blume aus glänzendem Eis. Plötzlich erwachte der Wolf aus seinen Tagträumen und rief: ,,Dort müssen wir graben!" Die Geister wurden zu Maulwürfen und fingen an, Erde zu räumen. Währendessen betrachtete Dokitura fasziniert die Eisblume. ,,Wie wusstest du, dass man..." Er hielt inne. Wolkov beantwortete die Frage mit "Erfahrung".

,,Hier ist etwas!", riefen die Geister gleichzeitig aus dem Loch, ,,Das ist der Waldrand, glaube ich.", ,,Also geht es los.", seufzte Doki und sprang hinunter. Nach ihm sprang Pieksi, dann Anduin und Meteor und erst nachden Wolkov sich umgesehen hatte, sprang er hinterher.

,,Willkommen", verkündete Bob (in Menschengestalt), ,,Im Wald der Erinnerungen. Wie war euer Plan nochmal?", ,,Wir suchen den Wendigo und verschwinden so schnell es geht.", erklärte Dokitura, ,,Haltet euch dicht beieinander und verliert niemals euer Licht.", ,,Das klingt doch ganz einfach, oder?", sagte Rob zitternd und verwandelte sich in einen großen Bären. ,,Sicherheit geht vor!" Bob tat es ihm nach. 

  Der Wald hatte eine unheimliche Stille in sich, doch diese drohte jede Sekunde zu entflammen. Als würde jeden Moment eine Armee Soldaten aus Sahais Dynastie auftauchen und Schaschlik aus ihnen machen. Oder vielleicht der gigantische Drache, der Lodrion vergrub, kommt kurz vorbei und hat zufälligerweise großen Hunger auf Brathähnchen. Im Endeffekt wären alle tot, auch die Verwandlungsgeister. 

Jeder einzelne Baum war so finster wie die tiefste Nacht, so sternenlos und ohne Licht. Es waren eigentlich keine Bäume, um genau zu sein. Es waren Linien aus fest gewordener Dunkelheit, also pure Magie, die so stark war, dass sie sich zu einem Baum formte. Rob meinte, dass der Wendigo hier seine gefährlichen Kräfte aufbewahrte, um niemanden zu schaden. (Wenn man bedenkt, wie mächtig er ist, kann man sich erdenken, wie stark die schwarze Magie dort unten ist) 

Wolkov räusperte sich und flüsterte: ,,Es war schön, dass du uns hierher gebracht hast, aber jetzt übernehme ich die Führung." Er packte die hellste Laterne und lief ohne zu fragen in den Nebel. Alle waren mit einem Seil verbunden, sodass sie sich nicht verlieren. Die Höhlen und Erdhaufen verschwanden hinter dem Waldrand, die Bäume schoben sich zusammen und bildeten eine dichte Wand aus Magie. Jetzt kämen sie erst raus, wenn sie viel mehr Licht hätten.

Langsamen Schrittes folgten sie einem dunkelgrauen Pfad, der so gerade war, dass er an eine Schiene erinnerte. Wolkov warnte sie, sie sollen sich nichts schlimmes vorstellen. Es könnte real werden... ,,Danke auch schön.", murmelte Pieksi, die verzweifelt versuchte nicht an einen giraffenähnlichen Monsterwolf zu denken. 

Dokitura war als zweiter in der Reihe und ritt auf Anduin, wie auch Pieksi. Es fühlte sich besser an, als allein zu Fuß zu laufen. 

Auf einmal hielt der Werwolf vorne an. ,,Was hörst du?" Wolkov drehte seine langen Ohren in wirklich alle Richtungen. ,,Mir... Ich... Da war Musik... Irgendwo da." Er zeigte mitten in den Wald. ,,Es war... so vertraut...", ,,Wir müssen weiter.", sagte Doki zur Erinnerung. Doch da ertönte ein Kriegerschrei von vorne. ,,Runter von der Straße!"; schrie Wladimir und zog alle hinter sich her. Eine Gruppe Soldaten ritt auf goldenen Rössern den Pfad entlang. Brennende Fackeln spiegelten sich in polierten Zipfelhelmen. Einer von ihnen hielt an und blickte genau zu ihnen. Seine Augen waren schwarz, oder hatte er überhaupt keine? Er hatte einen spitzen, dunklen Bart, faltigen Hals und war sehr blass. ,,Wer wagt es-?!" Er sprach nicht zuende, da zerfiel er zu Staub, genau wie alle anderen Reiter auch. ,,Wer war das?", ,,Das war Sultan Banji. Eine lebensechte Kopie von ihm. Ohne Augen, dafür mit goldenem Pferd. Genau so habe ich ihn mir vorgestellt."; ,,Du hast an ihn gedacht?!", ,,Ausversehen..." Pieksi sagte: ,,Ich habe ihn mir größer vorgestellt." Doki starrte sie wütend an. ,,Keine weiteren Sultane, bitte!", ,,Schhhh!" Ein Rascheln erklang auf der anderen Seite der Straße. ,,Das gibt es nicht, Felica!", sagte eine unbekannte, aber nicht freundliche Stimme, ,,Wo sind wir bloß gelandet?" Ein sehr dicker Mann mit grünlichem Anzug und goldenen Ketten kugelte auf den Pfad. Er hatte ebenfalls keine Augen. ,,Wenn ich dieses Tier in die Finger kriege, werde ich es ausstopfen und an die Wand hängen und mit ihm diesen elenden Wald roden." Seine Goldringe klimperten an seinen Wurstfingern. Eine Frau rief: ,,Aber mein Lord, wir sollten die Jagd abbrechen. In Nonngard gibt es viel mehr Probleme.", ,,Das interessiert mich nicht! Ich will diesen Wendigo!! Sofort!!!" Pieksi trat einen Schritt zur Seite und ließ es etwas rascheln. ,,W-W-W-Wer i-i-ist d-d-da?", stotterte der Lord und versank vor Angst im Boden. Dann löste sich die Erinnerung auf. ,,Wow. Fast hätte er uns bemerkt.", ,,Tut mir leid, Schatz.", ,,Komm, ich helfe dir auf."

Sie folgten stundenlang der selben Straße. Langsam fing Doki an zu gähnen. Es war nicht kalt, aber unangenehm dunkel. Die "Bäume" beugten sich über ihre Köpfe. Es raschelte im Dickicht, doch als sie nachsahen, lag nur eine tote Maus ohne Augen da. ,,Es ist ziemlich gruselig hier."; beschwerte sich Rob, ,,Aber raus geht es nicht. Seht!" Die Bäume versperrten den Rückweg. Pieksi rief. ,,Da vorne gibt es eine Kreuzung." Sie liefen weiter durch den etwas offeneren Nebel. ,,Wartet,", sagte Wolkov und erstarrte, ,,Es ist... Diese Musik." Er band sich gedankenlos vom Seil ab und rannte auf allen Vieren in die Dunkelheit, die Rufe seiner Freunde ignorierend. Die Laterne hatte er im Maul. Er rannte wie ein Verrückter auf der Suche nach einer Antwort auf etwas, das er nicht einmal selber kannte. Die Musik wurde immer lauter. Es war wie leichtes Klimpern auf einer winzigen Klaviatur oder ein Spielen einer alten Uhr. Wladimir hielt schlagartig an.

Vor seinen Pfoten lag eine goldene Spieluhr. Nein, die goldene Spieluhr. Er stellte die mit Sabber verklebte Laterne auf den schwarzen Boden und hob sie auf. Die Spieluhr gab ihm Wärme, doch es dauerte einen Bruchteil einer Sekunde, da zerfiel sie zu Staub. ,,Nein.", murmelte er und jagte den Fetzen hinterher, ,,Verlass mich nicht." Er stieß seine Laterne um, Das Licht erlosch. Er war ganz allein.

 

,,WOLKOV!!! Komm zurück!", kreischte Dokitura, ,,Bitte! Komm zurück." Pieksi beißte sich auf die Lippe. Meteor starrte mit seinen gelben Adleraugen in die Finsternis und rief mit krähender Stimme nach seinem Besitzer, doch dieser war fort. ,,Rob, Bob, könnt ihr nach ihm suchen?", ,,Vergiss es! Wenn wir da rein gehen, sind wir genauso erledigt, wie er.", ,,Was passiert jetzt mit ihm?", ,,Wenn er Glück hat, führt ihn eine gute Erinnerung raus. Doch die Chancen dafür-" Er blickte in den Wald, ,,Stehen sehr schlecht."

Bob knurrte: ,,Lasst uns lieber weiter gehen.", ,,Nicht ohne Wolkov!", ,,Glaub mir, Wächter des Westens, dieser alte Werwolf ist pfiffiger als man denkt. Selbst Legenden beschreiben ihn als einen der schlausten Bösewichte der endlichen Welt."

 

Wolkov lag zusammengerollt und eingekrümmt auf den Schatten. Sie füllten seinen Körper, infizierten seine Gedanken mit den schlimmsten Erinnerungen. Zum Beispiel als er als Monster bezeichnet wurde, von der Liebe seines Lebens. Dieser Schmerz kehrte allmählich zurück. Sein Herz schmerzte erneut. So stechend wie vor Jahrhunderten. 

Die Schatten zogen ihn wie ein schwarzes Loch in die höllischen Qualen. 

Ist das das Ende des legendären, großen Werwolf Wladimir Wolkov? Erdrückt durch seine eigenen Erinnerungen? 

Nein -  nicht mit ihm.

Er dachte für einen Moment an etwas Schönes. Sein Leben war voller Leid, aber auch voller Freude. Er dachte an Ivan, seinen alten Kriegs-kumpanen im Kampf gegen die südlichen Stämme aus Bradri, die nach Tridàs, seine alte Heimat, vordringen wollten. Er dachte an den jungen Avalon, wie er mit gekrümmten Dolchen sich in die Menge stürtzte, flammende Augen voller Abenteuerlust. Immer war auf ihn Verlass! Er hielt ihm den Rücken frei, als Kiho, die Anführerin, von hinten angriff. Ivan streckte seine starke Werwolfshand nach ihm aus und holte ihn aus der Dunkelheit.

Sein Licht strahlte so hell, wie tausende Sterne, genauso weiß, wie seine Augenhöhlen. Er lächelte und sprach: ,,Deine Zeit ist noch nicht gekommen, mein Freund. Geh! Finde den Wendigo! Der Feind ist nahe." Dann verschwand er, aber ein Lichtfunke blieb. Und Wladimir packte erneut sein Schwert. Er betrachtete seine treue Klinge mit Respekt und Zuversicht. Es war still, als wäre nichts passiert. Und so setzte er seinen Weg fort. Allein in der Finsternis.