Gefährliche Löcher

Doki kniete vor einem Dioritstein, in dem der Name seines besten Freundes Interru eingraviert war. Jeder Atemausstoß wurde eine weiße Wolke Dampf. Um seinen Schultern ging ein Pelzmantel, der ihn wärmen sollte, aber nicht tat. Die innere Kälte ließ ihn frieren. Die Blumen von gestern waren eingefroren, im Tal hinter den Bergen fielen die roten und gelben Blätter von den Bäumen und der Wind trug sie hinaus in die Weiten. Wer weiß, ob sie anhalten und um einen kreisen, als ob sie spielen wollten. Anduin stupste ihn vorsichtig an. Er seufzte kurz und setzte sich in den Sattel. Auf dem Flug zurück nach Lodrion, segelte Ilai auf Dragunia vorbei. Die grüne Drächin war ausgesprochen schnell und fröhlich. Genauso wie ihr Besitzer. ,,Was neues von der Patrouille?", fragte Dokitura den Wächter des Ostens. Dieser keuchte: ,,Doki, du wirst mir nicht glauben! Elvis steht vor dem Schutzschild und will verhandeln.", ,,Ist er allein?", ,,Was für allein? Eine ganze Truppe Eisritter steht hinter ihm." Schnell riefen sie die Wächter zusammen und flogen zur Grenze. (Dittmad hat kein Reittier, also teilte er seinen Sitzplatz mit Doki) Alle waren eingepackt in Pelzklamotten und Thermosocken. Der Herbst im Osten Hebriels war rau. Donnerhau schob seine buschigen, braunen Augenbrauen zusammen, um ernst auszusehen, doch brachte damit nur Ilai zum Lachen. Doki erhörte einen weiteren Flügelschlag hinter ihm. Er rief gegen den Wind: ,,Elvinaria, du solltest in Lodrion bleiben.", ,,Elvis ist an der Grenze. Ich will ihm in die Augen sehen und mich rächen.", ,,Für Rache ist keine Zeit.", fauchte Doki und hielt Anduin im Flug an, ,,Verstehst du nicht? Wenn du Elvis tötest, holst du Interru nicht zurück. Er war auch mein bester Freund. Für dich sogar mehr als ein Freund. Doch du solltest akzeptieren, was du hast." Elvinaria schrie wie eine wilde Krähe: ,,Nicht solange der Mörder meiner großen Liebe noch lebt.", ,,Er ist dein Bruder." Damit brachte er sie zum Schweigen. ,,Folge uns. Vorsichtig. Und halte dich im Hintergrund!" Donnerhau wagte zu sagen: ,,Hör auf zu heulen, Mädel! Es gibt auf Erden nicht nur den einen.", ,,Du hast recht. Vielleicht sollte ich den Bestmöglichen töten. Wie wärs?", ,,Konzentration!", mischte sich Doki ein und flog weiter.

An Ilais Posten hielten sie an. Rechts war der Dunkle Wald, links die Weiten. Diese überflogen sie und landeten nur wenige Meter hinter dem östlichsten Berg, kurz vor der Grenze. Und wie Ilai gesagt hat, waren dort Elvis und mindestens zwanzig ausgebildete, starke Eisritter. Alle packte die Wut, selbst Ilai vergaß sein Freundlichsein. Es war windstill und wolkenlos. Eine gruselige Stimmung. Perfekt für gruselige Verhandlungen. Dittmad packte sein Feuerschwert, Elvi ihr eigenes, Donnerhau die Axt und Ilai... Nichts. Nur sein Glücksschild, welches er auf "Friede" taufte. Dokitura strich sich hektisch die Haare aus dem Gesicht. ,,Was willst du?" Elvis durchstach sie mit einem einzigen Blick. Er hatte seinen Kinnbart gut gepflegt, seine Haare sauber geschnitten und die Narben an der Schläfe mit Farbe überdeckt. Als ob er alles genau eingeplant hätte. ,,Was wollt ihr?", kreischte Doki von Anduins Rücken in Richtung Grenze. Elvis grinste schmal und antwortete genauso laut: ,,Euer König ist nicht in seiner neuen Stadt. Ungeschützt sind die Grenzen.", ,,Ungeschützt sind sie nicht.", knurrte Dittmad. Elvis lachte: ,,Das ich dich mal wiedersehe, Dittmad. Ein Jammer, dass du nicht tot bist." Damit brachte er die Wächter in unruhiges Fauchen. Er fuhr fort: ,,Taifun will verhandeln. Mit dem König. Ohne Waffen. In einem Zelt bei Filius' Stall.", ,,Was will er verhandeln?", verlangte Doki zu wissen. ,,Einen Friedenspakt. Euer Land gegen euer Leben. Sonst verliert ihr beides." Doki wollte beinahe widersprechen, als ihn Ilai am Ärmel zog und ihm uns Ohr flüsterte, dass der König entscheiden solle. Unzufrieden nickte er. ,,Wann?", ,,.Am 17. Gidon. Sonnenuntergang. Es wird ein Festmahl geben. Wolkov wird auch herzlich eingeladen.", ,,Herzlich liegt nicht in eurem Wortschatz." Damit waren die Verhandlungen zuende. Elvinaria ritt noch zentimeterweit vor die Nase ihres Bruders. ,,Du hast mir meinen Freund genommen.", ,,Und du meine Ehre. Wir sind jetzt quitt.", ,,Monster.", ,,Bediensteter. Leb wohl, Schwesterherz. Grüß die Oma." Elvi versuchte ihre bitteren Tränen zu unterdrücken und ihre Wut. Zum Glück rief sie Doki zu sich, sonst hätte sie ihren Bruder angegriffen.

Beim Rückflug fing sie an zu weinen. Ilai beruhigte sie mit netten Worten und eins-zwei Liedern. Als sie wieder in Lodrion ankamen, kam Pieksi schnellen Schrittes mit zwei kleinen Füchsen in den Händen auf sie zu. Dabei war sie sehr ernst und hielt beide am Kragen. Der eine war langhaarig, braun und klein, der andere rötlich und groß (etwas zerrupft) ,,Schau, wen ich gefunden habe!" Sie warf die zwei vor Dokis Stiefel. ,,Wer... ist das?" Pieksi rollte mit den Augen und brüllte sie an: ,,Verwandelt euch sofort zurück, ihr Fellklumpen! Wirds bald!" In wenigen Sekunden standen zwei Männer vor ihnen. ,,Diese zwei Typen haben die Küche geplündert, in unseren Betten geschlafen und überall ihre Fußstapfen hinterlassen." Beide hatten verfilzte Haare und lange Bärte, dreckige, zerrissene Klamotten und alte Wollsocken an den Füßen. ,,Er wars!", sagten sie gleichzeitig und zeigten aufeinander. Doki runzelte die Stirn. Ihre Gesichter kamen ihm irgendwie bekannt vor. Aber woher? Pieksi erzählte weiter (sehr sauer): ,,Zwischendurch waren sie Katzen, Leguane und sogar Falken. Aber Thando hat sie fangen können.", ,,Woher kommt ihr?", fragte Shangs Bruder. ,,Aus Lavaredìnia.", ,,Was habt ihr dort gemacht?", ,,Verkauft. Sachen halt." Dokitura kratzte sich am Kopf. Selbst ihre Stimmen kamen ihm vertraut vor. ,,Schatz, bring sie ins Warme. Ich muss erstmal nachdenken. Irgendwoher kenne ich sie.", ,,Wir kennen Sie auch.", fügte der Kleinere hinzu und der große (braunhaarige) klatschte ihm eine auf den Hinterkopf. ,,Warte! Ihr seid die Verkäufer am Strand! Die uns die Hippocampi... Das seid ihr!" Beide nickten. ,,Und ihr seid... Die Ranger im Birkenwald der Mittelinsel, die uns Fisch verkauft haben.", ,,Ja, die sind wir auch.", ,,Aber wie- aber warum- Ich meine-", ,,Wir sind Verwandlungsgeister. Genauso wie Phönix ein Feuergeist ist.", ,,Ihr kennt Phönix?", ,,Er hat uns hierher gebracht.", erklärte der Große zähneschlotternd, ,,Wir waren so froh, aus der Stadt entkommen zu sein und dann brachte uns dieses Pferd ins Königland! Das war der beste Tag unseres Lebens.", ,,Wie hat er euch durch das Schutzschild gebracht?", fragte Doki etwas grimmiger. Beide zuckten die Schultern. Der Kleine meinte: ,,Da war nichts. Einfach garnichts.", ,,Wie meinst du das?", ,,Kein Schutzschild. Ein Loch." 

Vor Angst erstarrten alle, außer der zwei Männer, für einen Augenblick. ,,Das ist also das Ende."; murmelte Donnerhau. ,,Nein!", erwiderte Doki mit vor Nervosität, zitternder Stimme, ,,Das ist nicht das Ende. Ich werde das Loch untersuchen und ihr-" Er zeigte auf die Zwei. ,,Werdet mich dorthin bringen. Einer von euch muss zu meinem Bruder fliegen und ihm von Taifuns Treffen berichten." Er hielt kurz inne, weil ihn alle wie versteinert anstarrten. ,,Es. Ist. Noch. Nicht. Bewiesen - Es. Ist. Nicht. Vorbei. Nicht, solange mein Bruder lebt." Er schwang sich in Anduins Wollsattel. ,,Ihr könnt hinter mich.", ,,Wir fliegen schon selber.", meinten beide und verwandelten sich in zwei kleine Falken. ,,Beeindruckend.", knurrte Donnerhau und strich Draco über den schuppigen, roten Hals. 

Und wieder flog Doki in Richtung Osten. ,,Wie heißt ihr eigentlich?", ,,Ich bin Rob.", sagte der Kleinere, ,,Und das ist Bob.", ,,Nett euch kennenzulernen. Ich bin Dokitura. Gibt es noch mehr eurer Art?", ,,Wir sind Geister. Alsovom Wendigo, dem Erwähler, gemacht, sich zu verwandeln. Es gibt aber Verwandlungskünstler. Diese können sich nur in ein Tier verwandeln.", ,,Haha. Ich beneide euch.", ,,Lass das lieber.", warf Bob ein, ,,Im Westen würden wir gejagt werden. So hat es der Bürgermeister Nonngards angelegt, weil wir 'gefährlich' seien. Deswegen halten sich die Verwandler im Untergrund." Doki kam ins Grübeln. Als ob der Bürgermeister den König ignorieren würde. Er fragte: ,,War der Adler in den westlichen Bergen einer von euch? Braun, groß.", Rob meldete sich: ,,Nein. Das war bestimmt Avalon- Ups.", ,,Avalon?", ,,*seufz* Der Anführer des Orden des Rabens." Sofort hielt Doki seinen Greifen an und die Verwandlungsgeister knallten gegen ihn. ,,Es gibt den Orden noch?", ,,Natürlich. Die geheimen Beschützer des Königlandes. Feige, aber immer da.", ,,Wo sind sie?", ,,Keine Ahnung. Vielleicht weiß das Avalons älterer Sohn... Wie hieß er nochmal, Bob?" Bob antwortete mit: ,,Arcadij Kostiliev.", ,,Ach ja, der Agro!" Doki mischte sich ein: ,,sToP! Arcadij Kostiliev aus Nonngards letztem Viertel? Schläger, Schuldenträger und Eintreiber?", ,,Ja, das klingt nach ihm." Für Doki brach in Sekunden die halbe Welt zusammen. (Und für mich auch) ,,Die Welt ist klein.", sagte Bob ruhig, ,,Irgendwo kennen wir uns alle und sind alle eins." 

Im Süden brauste sich ein Orkan zusammen und sie mussten sich beeilen. Der Wind brachte eine geheimnisvolle Melodie wie die einer Flöte einer Harfe mit sich. Kühl strich er über Dokituras rote Wangen, brauste durch Anduins schwarze Federn und nahm eine mit. Mit in die Ferne. Hinter die Berge. Hinter das Königsland. Wie die bunten Blätter und das Gespiele aus Friedrichs Flöte. Für einen Moment war alles friedlich, dann ertönte der Donner. Doch davon ließen sich die Dorfbewohner nicht einschüchtern. Sie winkten einander zu, lachten, spielten. Weiter, wie das Leben. Huram kniete auf der Wiese und warf den fliegenden Wesen einen finsteren Blick zu, der zugleich voller Hoffnung und Mut war. Doki wusste, dass er sie nicht enttäuschen durfte. Er trotzte dem peitschenden Regen und setzte seinen Weg fort.

Über St. Sulfrago lag Nebel und Schatten. Der Strand war voller Spinnweben. Die Berge am Horizont standen wie eine Reihe steiniger Soldaten da, bereit gegen jeden noch so starken Feind zu kämpfen. Auch wenn er nach einem gigantischen Wirbelsturm benannt ist.

,,Von wo seid ihr gekommen?", rief er und Regen plätscherte in seinen Mund. ,,Genau da unten!", erwiderte Rob und machte einen Sturzflug. Die Grenze war klar angedeutet, durch eine orangene Linie aus uraltem Glas. Doch die Veränderungen in der Luft waren nicht zu spüren. Es war als ob beide Länder, Hebriel und das Sultanreich, miteinander verschmolzen wären. Außerdem war an diesem Ort ein angedeuteter Umriss im schillernden Blau. Doki murmelte: ,,Was ist das?" Er fasste den leuchtenden Kreis vorsichtig, zitternd an. Die Funken begannen sich in einer Spirale zu drehen. Es war ein Loch mitten durch nichts, aber genau über der Grenzlinie. ,,Und das bedeutet?", wollte Bob wissen. ,,Der Wendigo wird gejagt.", antwortete Doki, wischte sich das Wasser von der Stirn und zog einen fernen Blick auf, ,,Er wird schwächer und mit ihm unser Schutz. Er ist verletzt. Er braucht unsere Hilfe. Rob, Bob! Wo könnte er stecken?", ,,Er ist zwar unser Erschaffer, aber wir sind nicht mit ihm verbunden.", meinte Rob schuldenlos, beinahe desinteressiert. Bob: ,,Wahrscheinlich versteckt er sich im Wald der Erinnerungen.", ,,Was ist denn das?", ,,Nicht wirklich ein Wald.", erklärte er nachdenklich, ,,Wohl eher... Ein unterirdischer Gang mit Tropfsteinen.", ,,Eine Tropfsteinhöhle.", korrigierte Rob und wrang sich die roten Dreadlocks aus, ,,Aber mit einem magischen See.", ,,Ist der vielleicht in der Höhle der Zeit unter dem Urwald in Noràli?", ,,Gleich daneben! Einen sicherenen Ort gibt es nicht. Er hat ihn selbst erschaffen." Bob fügte hinzu: ,, Doch das wird Taifun nicht daran hindern, dort einzudringen. Dieser Mistkerl wird alles tun um das Königsland in seinen Besitz zu holen!" Doki dachte schon angestrengt darüber nach, wieder nach Noràli zu reisen. Und diesmal mit Pieksi.