Weg von der Stadt
Shang_Xi schloss das Buch und schlang die Arme um Dokitura.
Das Birkental war groß und das Pferd wippte ruhig hin und her wie eine Wiege.
,,Sind wir schon da?", ,,Nein! Ein bisschen Geduld. Du hast die ganze Stunde schon damit genervt.", ,,Sorry...Aber ich habe Hunger!", ,,Dann nimm das." Dokitura, ein Farmer und Bruder von Shang_Xi, reichte ihm eine gebratene Kartoffel nach hinten. Und damit die Stute nicht eifersüchtig wurde, gab er ihr eine Karotte. Es war offensichtlich, wie rar das Fleisch auf dem Land war. In der Stadt gab es davon zuhauf. Eine große Umstellung für den 15-jährigen Halbpanda. ,,Doki, wie viel Gemüse hast du denn bei dir? Wir ernähren uns schon drei Tage von dem Zeug. Ich brauche Fleisch, Mann.", ,,Ah ah. Erst wenn wir da sind.", erwiderte Doki mit einem schmalen Lächeln. ,,Und wann wäre das?", ,,In fünf Tagen.", ,,Was?!", ,,Kleiner Scherz. Nur eine Übernachtung." Sie ritten weiter. Sie scherzhaft hat es Shang nicht aufgenommen. Eine weitere Übernachtung in dem düsteren, alten Birkenwald voller Schatten und Tod.
In ihrem Inventar war ein paar Stücken Wolle, ihr Zelt also, etwas zu Essen natürlich, sehr viele Bücher und ein Eisenschwert für Doki. Auch wenn man es als überflüssig betrachten würde, für Shang waren die Bücher lebensnotwendig. Geschichten von Rittern, Burgen und Drachen, die immer noch durch die Lande des lang verschollenen Königtums streiften. Drachen mit glatten Schuppen und gewundenen Hörnern. Ihr Maul so groß, dass beide problemlos reinpassen würden, mit dem Pferd. Der Rachen heiß wie tausend Feuer und die Augen so scharf wie Messerstiche.
Shang war ein junger Halbpanda mit schwarzen Augenringen, hellblauen Augen und kurze, schwarze Haarstränen, die nach vorne verliefen. Er kam aus der Großstadt Nonngard. Die Stadt der unendlichen Möglichkeiten und den dunkelsten Gassen. Das Liebste war die Bibliothek und die Schule. ,,Lernen ist Leben.”, sagte ihr Onkel Morgal einst. Wenn er an ihn dachte, verstummte er und versuchte die Erinnerungen an ihn zu verdrängen. Morgal hat ihn aufgezogen und nun war er tot. Daraufhin musste Shang zu seinem nächsten Verwandten und das war sein großer Bruder Dokitura. Er war zwar nicht sehr begeistert davon, seine geliebte Schule verlassen zu müssen und auf Land zu ziehen. Zwar liebte er seinen Bruder sehr, aber ihm fehlte die Stadt jetzt schon.
,,Wann rasten wir?", ,,Wenn wir eine Gaststätte finden.", ,,Also gar nicht.", brummte er. ,,Doch!", widersprach Doki, ,,Da vorne ist eine!"
Er zeigte auf eine Waldhütte, die aus Birkenholz gebaut war und Ranger am Eingang standen. Sie banden Wind an einem Pfosten. Einer der Ranger rief: ,,Landstreicher oder Stadtmäuse?", ,,Beides.", antwortete Shang_Xi, ,Er ist ein Farmer und ich komme aus der Metropole Nonngard.", ,,Willkommen! Selten sieht man hier Besuch." Die Ranger ließen sie rein. ,,Was darf es sein? Seelachs, Steak, vielleicht ein bisschen Gemüse?" Shang_Xi blieb bei diesem Wort der Atem stecken. ,,Seelachs, aber gebraten.", bestellte Dokitura und setzte sich zu Tisch. Shang blätterte in einem seiner Bücher. Doki fuhr sich durch die braunen Haare und rieb sich die verschlafenen, dunkelblauen Augen. Irgendwo im Raum drehte sich eine Schallplatte auf dem Plattenspieler mit walzartiger, aber schwungvoller Musik. Ansonsten war es still. Hinter den Seiten des Buches versteckt, musterte Shang den Raum und bemerkte, wie schnell die Ranger auftauchten und wieder verschwanden. Wie Geister der Verwandlung.
,,Wieso haben Sie so wenig Besucher?", fragte er neugierig.
Der Ranger, der gerade nicht kochte, sondern nur dumm in der Ecke stand, erwiderte: ,, Nur wenige trauen sich ins Birkental. Sie nehmen lieber den langen Weg.", ,,Wieso?", hakte Shang nach.
,,Lawinen, fast täglich, gruselige Werwölfe, schwarze Reiter, die nur Angst machen nicht töten, ähm... Phantome, die dich aussaugen, wenn du um Mitternacht nicht schläfst und normale Wolfsrudel.", ,,Das sind aber viele gute Gründe.", ,,Keine Sorge, hier sind wir sicher!", lachte der andere Ranger am Herd, ,,Wir haben Katzen, die sie abschrecken, Jäger, wie wir, die die Wölfe und Werwölfe jagen und Redstone-Warnsysteme für Lawinen. Wollt ihr heute also bei uns schlafen, reserviere ich ein Zimmer."
Die Brüder wechselten einen Blick und der Ältere stimmte zu.
Für den Lachs legten sie einen Smaragd auf den Tisch. Gut war es, wieder etwas Normales im Magen zu spüren.
Dokitura und sein kleiner Bruder bekamen ein Zimmer mit zwei grünen Betten.
,,Hier laufen manchmal Katzen rum, die jagen die anderen Viecher." Sofort flüchtete Doki aus dem Zimmer ins Bad und Katzenhaare flogen durch die Luft. ,,Er hat eine sahr starke Katzenhaarallergie.", erklärte Shang als der Ranger ein schiefes Gesicht zog. Shang konnte kaum schlafen. Er hatte so eine Mischung aus den Legenden, seinen Ängsten vor der Zukunft und der Erleichterung vor der Vergangenheit im Kopf. Wie wird wohl der Hof seines Bruders sein? Was wird ihn auf dem Land erwarten? Harte Arbeit, wenig Essen? Ein Kratzen war an der Tür. Dokitura hat dafür gesorgt, dass alle Katzen außerhalb des Zimmers bleiben und jetzt wollten sie wieder rein. Shangs Gesichtsmuskeln zuckten und er legte sich auf den Rücken. Durch das Fenster über ihm schien der große Vollmond und der Raum war getaucht in silbernes Licht. Und auf einmal überkam ihn das Gefühl des Kummers.
Am Morgen frühstückten sie und ritten weiter. Der Pfad wurde immer schmaler und Dokitura holte einen Kompass raus um sich zu orientieren. Weil er aber verlernt hat, sich nach einem Kompass zu orientieren, weil er sich auch nicht gemerkt hat, aus welcher Richtungen er kam, um seinen Bruder abzuholen, blieben sie einfach mitten im Wald stehen und sahen sich kurz um.
,,Sind wir endlich da?", ,,Siehst du irgendwo eine Farm?" Shang sah nur dicht bewachsene Birken und keinen Pfad mehr. Er wusste, er führte sich wie ein Baby auf, aber er hatte wirklich keine Lust mehr auf das ganze Rumgereite.
,,Toll. Ganz toll. Als du mich vom Hafen abgeholt hast, war keine Rede davon, dass wir uns verlaufen werden!", ,,Shang, reg dich ab. Da vorne ist doch schon der Strand." Wind trabte schnell da hin. Ihre halblange Mähne tänzelte im entgegengesetzten Luftwiderstand.
,,Was jetzt?", ,,Jetzt warten wir bis uns Pieksi abholt." Sie rasteten. Das hieß, stiegen ab und warteten... Warteten... Warteten...
,,Wir haben noch gar nicht über die Seefahrt hierher geredet.", fing Doki an und strich sich die braunen Haare aus dem Gesicht.
,,Ich wurde seekrank." Der junge Halbpanda zupfte an den Seiten eines Buches. Doki seufzte. Er kam einfach nicht an seinen Bruder ran. Er wusste, ihm fehlte Morgal sehr, aber ihm doch auch und er musste verstehen, dass er jetzt auf ihn aufpassen musste und deshalb mussten sie sich verstehen.
,,Da kommt sie!" Ein menschlicher Kaktus, wortwörtlich, näherte sich mit einem Boot. Wohl eher ein Schiff ,,Alles inklusive Pferd aufladen!" Sie packten Wind nach vorne. Das war Pieksi. Sie war die Freundin von Dokitura und Inhaberin der Farm im mittleren Osten des Landes. Sie war die Tochter eines hohen Machthabers der Silverrider, die einmal in den Bergen von Lodrion lebten. Sie sind verschwunden, genauso wie alle anderen Unterstellten des Königs. Und das erst vor kurzer Zeit. Als hätten sie nie existiert.
Ganz gelassen paddelten sie über die Meerenge.
,,Wieso lebst du so weit von zu Hause entfernt?", fragte Shang seinen Bruder. ,,Nonngard ist nicht mein Zuhause. Nicht mehr. Wir leben ohne König abgeschieden von der Welt auf einer namenlosen Farm und sind sehr glücklich. Nicht umsonst haben wie dich nach dem Tod von Onkel Morgal zu uns geholt. Es wird dir gefallen!" Das wussten sie nicht wirklich, aber sie hofften es.
Am Horizont war ein gigantisches, verschneites Gebirge und noch weiter weg war ein kleines Haus in Sicht...